lesenswelt #1.a: Die Siliziuminsel | Chen Qiufan

Als Ergänzung zu meiner ersten Ausgabe von lesenswelt China im Wandel – Die Neuerfindung der Diktatur, in der unter anderem auch die Anthologie Quantenträume mit Kurzgeschichten chinesischer Autor*innen zum Thema künstliche Intelligenz besprochen wurde, hier eine Rezension zum Science-Fiction-Roman Die Siliziuminsel von Quifan Chen.

Da habe ich mich bei Erscheinen irgendwie vom Cover täuschen lassen, und dachte, der Roman würde in einer postapokalyptischen Müllwelt mit Robotern spielen. Tut er gar nicht. Er spielt in einer nahen, aber doch cyberpunkigen Zukunft – in der die Menschen ihre Körperteile mit technologisch hochgerüsteten Protesen ersetzen – auf einer Insel in der Provinz Guangdong, der sogenannten Siliziuminsel, auf der Elektroschrott und Müll aus westlichen Industriestaaten von einfachen Wanderarbeiter*innen auf eine der Gesundheit nicht sehr förderliche Weise in seine Bestandteile zerlegt und für den Recyclingprozess vorbereitet werden. Basierend auf der real existierenden Insel Guiyu.

Das ist also immer noch ein hochaktuelles Buch. Denn auch wir in Deutschland, die wir doch so stolz auf unsere Mülltrennung und das Recycling sind, schicken große Mengen an giftigem Elektroschrott nach Afrika und Recyclingmüll nach Asien. Die Siliziuminsel wurde 2013 geschrieben, damals ging unser Müll noch überwiegend nach China, 2018 stoppte China den Import vollständig sehr abrupt. Was die deutsche Abfallwirtschaft vor große Probleme stellte und noch einmal deutlich zeigte, was für eine Lüge wir hier leben, mit unserer ach so nachhaltigen Mülltrennung und dem Grünen Punkt, der eigentlich nur ein Geschäftsmodell ist, um noch mehr Profit aus unserem Müll herauszuholen. Denn ein Großteil des Mülls, der in der gelben Tonne landet, wird entweder verbrannt oder eben ins Ausland exportiert, wo er  unter nicht umweltfreundlichen und nachhaltigen Bedingungen weiterverwertet wird. Inzwischen landet das Meiste in Malaysia, während andere südostasiatische Länder wie Indien, Indonesien und Vietnam dem Beispiel Chinas gefolgt sind, und nicht mehr als Müllhalde des Westens dienen wollen.

Der Roman

Aber zurück zum Roman, der erzählt zum einen von der Müllverarbeitung und Verwertung, die auch in einer technologisch fortgeschritteneren Zukunft noch eine schmutzige Angelegenheit ist, aber auch vom Schicksal der chinesischen Wanderarbeiter*innen. Hier am Beispiel der jungen Mimi, die unter falschen Versprechungen auf die Siliziuminsel gelockt wurde und dort unter unwürdigen und gefährlichen Bedingungen schuften muss. Ein Schicksal, dass auch aktuell Millionen von Chines*innen in den rasant aufgezogenen Wirtschaftszonen wie Shenzen teilen.

Hinzu kommt der ursprünglich von der Siliziuminsel stammende Kaizong, der in den USA aufgewachsen ist und nun als Dolmetscher für eine amerikanische Recyclingfirma in die Heimat seiner Eltern zurückkehrt. Dieser Konzern, vertreten durch den undurchsichtigen Scott Brandle, möchte dort eine moderne Müllverarbeitungsanlage bauen, geht aber mir fragwürdigen Methoden vor. Die Insel wird von drei Familienclans beherrscht, zu denen auch die Familie Kaizongs gehört. Es herrscht eine strikte diskriminierende Klassengesellschaft. Die müllverarbeitenden Wanderarbeiter werden als „Müllmenschen“ bezeichnet und von der ansässigen Inselbevölkerung verachtet.

Das Buch spielt in einer High-Tech-Zukunft, aber in einer Low-Tech-Umgebung, da die Insel als repressive Maßnahme vom schnellen Internet abgekoppelt wurde. Es geht um Klasenkampf, Umweltschutz aber auch um eine Liebesgeschichte und einen Racheplot. Die Cyberpunkelemente kommen erst ab der zweiten Hälfte so richtig zum Tragen, dafür fährt Chen dann aber starke Geschütze auf und verbindet alle zuvorgenannten Elemente in einem eleganten und spannenden Finale.

Schade finde ich aber, dass sich Chen – wie so viele chinesische Science-Fiction-Autor*innen – nur auf westliche Popkultur bezieht, ob Filme, Bücher oder Musik. Chinesische Kultur ist in Form von Mythen und Legenden vertreten, aber es gibt überhaupt keine aktuellen Bezüge. Das Buch spielt komplett auf der Siliziuminsel, die sicher auch ein Kunstgriff ist, um einen gesellschaftskritischen Roman zu schreiben, der trotzdem nur wenig Bezüge zum aktuellen China besitzt. Die Insel ist vom Rest des Landes isoliert und abgekoppelt, die Internetnutzung stark beschränkt. Ihr Charakter eher fiktiv, wenn auch mit aktuellen Problemen belastet. Trotzdem gelingt es Chen gut, die weit in der chinesischen Gesellschaft verbreitete Spiritualität mit modernen Themen und Technologien zu verbinden.

Im Vergleich zu Cixin Lius Die drei Sonnen oder den Kurzgeschichten in der Anthologie Quantenträume (hier von mir besprochen) ist Die Siliziuminsel relativ gesellschaftskritisch. Das dürfte vor allem daran liegen, dass das Buch im Original 2013 erschien, dem Jahr von Xi Jingpins Amtsantritt als Vorsitzender der Kommunistischen Partei. Bis dahin hatte die chinesische Gesellschaft unter dessen Vorgänger Hu Jintao relativ viele Freiheiten erfahren, zum einen, was das Internet angeht, zum anderen auch, in Sachen Veröffentlichungen von Büchern und Filmen. Xi Jingpin hat die Zügel langsam wieder angezogen. Inzwischen ist das Land so restriktiv und repressiv wie seit Jahrzehnten nicht mehr, und dank der digitalen Überwachung so dicht überwacht wie noch nie. Wie auch Chen Qiufan erfahren durfte. Im kürzlich veröffentlichten Porträt bei Wired kann man nachlesen, wie sich das auf seine Arbeit auswirkt.

Was der Blick nach China über uns offenbart

Die Wanderarbeiter*innen in China leben und arbeiten seit Jahrzehnten unter menschenunwürdigen Bedingungen. Gibt es bei uns in Deutschland nicht, mag man*frau denken, und vergisst dabei die aus Rumänien und anderen Ostblockländern herangekarrten Erntehelfer*innen, die letztes Jahr trotz Pandemie bei der Spargelernte unter ansteckungsfördernden Bedingungen untergebracht waren. Oder kürzlich erst die Helfer für die Erdbeerernte. Menschen, die wie moderne Arbeitssklaven behandelt werden, nicht nur in China, auch hier in Europa und Deutschland.

Für eine Buchbesprechung eines chinesischen Science-Fiction-Romans habe hier ziemlich viel über politische Themen, die auch Deutschland eine Rolle spielen, geschrieben. Ziel von lesenswelt ist es, die Welt zu erlesen. Und wenn man die Welt erkundet und erliest, erfährt man nicht nur viel über das Reiseziel, sondern auch über sich selbst und die eigene Heimat bzw reflektiert darüber. Und in einer globalisierten Welt hängt alles miteinander zusammen. Wir kaufen Produkte Made in China und schicken sie nach einer Weile wieder als Schrott und Müll zurück. Unser Verhalten hier in Deutschland, hat Einfluss auf das Leben der Menschen in China. Damit meine ich nicht unbedingt, das Konsumverhalten der Einzelnen, damit würden die eigentlichen Verantwortlichkeiten nur verschleiert werden, sondern vor allem die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die dazu führen.

Die Übersetzung aus dem Chinesischen von Marc Hermann (Lektorat Cathrine Beck) liest sich ganz hervorragend.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert