lesenswelt #1: China im Wandel – Die Neuerfindung der Diktatur

Das hier wird keine klassische Buchbesprechung. Ausgehend von Kai Strittmatters Die Neuerfindung der Diktatur werde ich mehrere Werke vorstellen, in denen es um Chinas Gesellschaft und die jüngsten politischen, wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen des Landes geht. Auf Strittmatter folgt Frank Sierens eher kapitalistischer, auf Wirtschaftswachstum und Marktanteile fixierter Blick in Zukunft? China!, der dennoch interessante Perspektiven zu bieten hat. Gefolgt von der Science-Fiction-Anthologie Quantenträume, in der sich chinesische Autor*innen dem Thema künstliche Intelligenz widmen, und bei der vor allem spannend ist, was alles nicht erwähnt wird. Zwischendurch gibt es noch ein paar Filmtipps, zu Werken, die China von einer eher unbekannten Seite zeigen. Und zum Abschluss liefert Peter Hessler in Orakelknochen Einblicke in den Alltag der Menschen, verknüpft mit der Geschichte der chinesischen Sprache.

China befindet sich auf dem Weg, (wieder) die nächste Weltmacht zu werden. Das 21. Jahrhundert, heißt es, werde ein chinesisches. Die Zahlen sind beeindruckend, das Wirtschaftswachstum, die Entwicklung der chinesischen Tech-Konzerne und die Fortschritte auf dem Gebiet der Digitalisierung und künstlichen Intelligenz beängstigend.

Kritik an China kommt zwar regelmäßig auf, immer dann, wenn wieder neue skandalöse Vorgänge im Umgang mit Minderheiten und kritischen Stimmen aufgedeckt werden, doch das Ausmaß und die Radikalität des Systems dahinter dürfte den wenigsten bekannt sein.

"Die Neuerfindung der Diktatur" von Kai Strittmatter

© Anton Turovinin / Piper Verlag

Mit Die Neuerfindung der Diktatur liefert Kai Strittmatter – der Sinologie in China und Taiwan studiert hat und von 1997 bis 2018 als Korrespondent in China tätig war – einen Überblick über die Entwicklungen in der chinesischen Gesellschaft und Politik von Maos Zeiten bis in die Gegenwart, vor allem aber zu den radikalen Umbrüchen, die seit Xi Jingpings Machtantritt 2012 für gewaltige Veränderungen sorgen, ja für mehr Wohlstand und weniger Armut, aber vor allem für ein perfektes Überwachungssystem, das die Gesellschaft so grundlegend durchdringt, dass es selbst das Denken der Menschen rund um die Uhr beeinflusst und überwacht.

China steht kurz davor, den Westen in Sachen Technologie und Digitalisierung abzuhängen. Schon 98% aller Zahlungen werden per Smartphone mit den Diensten Wepay oder Alipay getätigt. Soziale Netzwerke wie WeChat durchdringen jede Faser der Gesellschaft, immer mit dem wachsamen Auge der Regierung im Hintergrund. Während ich von Chinas Digitalisierung gelesen habe, empfand ich uns hier in Deutschland mit dem ganzen Bargeld, den Kreditkarten und Faxgeräten, die immer noch benötigt werden, furchtbar rückständig. Doch Strittmatter führt eindrucksvoll vor, welche Konsequenzen hinter einer solchen Technologisierung stecken.

© Markus Winkler/Pixabay

Dabei geht er klar strukturiert und thematisch gegliedert vor. Von der Bedeutung der Sprache über die Willkür der Gesetze, die jeden zum Gesetzesbrecher und damit angreifbar machen, zur Entdeckung des – zuvor so als subversiv gefürchteten – Internets durch die Partei als Machtinstrument, über den technologischen Fortschritt inklusiver künstlicher Intelligenz jenseits des Kopierens westlicher Technologien, bis zur totalen und freiwillig wirkenden Unterjochung des Volkes durch ein digitales und allgegenwärtiges Social-Scoring-Systems und der veränderten und verkümmerten Denkstrukturen der Untertanen durch das grausame System.

Strittmatter ist viel gereist, hat sich unterhalten mit Künstlern, Menschenrechtsanwälten, Dissidenten, Akademikern, Menschen, die aufbegehren und sich nicht mundtot machen lassen wollen. Die eine kurze Phase der Meinungsfreiheit erlebten in den Jahren vor Xi Jinpings Amtsantritt, und sich öffentlich per WeChat mitteilen konnten, bevor das Regime gnadenlos zuschlug und alle verschwinden ließ, die sich kritisch äußerten, die gefoltert und deren Familien bedroht wurden, bis sie vor laufenden Kameras öffentlich Abbitte leisten mussten.

Stimmen aus China selbst erhält man dazu wenig. Bücher, die erscheinen – ob von Nobelpreisträger Mo Yan oder Science-Fiction-Star Cixin Liu – kommen sehr unkritisch daher. Bei Filmen sieht es ähnlich aus, alles muss durch die Zensur, doch ein Kleinod hat es während der kurzen Zeit der Lockerungen geschafft, ein authentisches Bild vom einfachen Leben der Wanderarbeiter in China zu erzählen: A Touch of Sin basiert auf wahren Geschichten, Strittmatter hat sich mit Regisseur Jia Zhangke, dem großen Chronisten des ländlichen Chinas, der vor diesem Film von Xi Jinping noch gelobt wurde, unterhalten. Ein harter, realistischer Film, kunstvoll erzählt. Ein Meisterwerk, das ich nur weiterempfehlen kann.

Die Neuerfindung der Diktatur ist ein sehr kluges Buch, dem man auf jeder Seite anmerkt, dass Kai Strittmatter Kultur, Menschen und Sprache Chinas bestens kennt. Viele der aktuellen Entwicklungen weiß er mit historischen Beispielen von teils vor über 2.000 Jahren zu verknüpfen, findet aber auch viele Bezüge zur Zeit von Mao und der Kulturrevolution, wenngleich die Partei aktuell viele der Thesen Maos, aber auch der von Marx, Lenin und Konfuzius so lange verdreht, bis sie zur kapitalistisch repressiven Ausrichtung passen, die China gerade so erfolgreich macht.

Das Buch liefert eine eindrucksvolle Gegenstimme zu all jenen, die aus dem Schwelgen in Bewunderung ob der wirtschaftlichen und globalpolitischen (siehe Neue Seidenstraße) Entwicklungen Chinas gar nicht mehr herauskommen und jegliche Kritik an Menschenrechtsverletzungen verdrängen.

"Zukunft? China!" von Frank Sieren

Eines dieser Bücher, die sich relativ unkritisch für Chinas Wirtschaftswachstum und technologischen Fortschritt begeistern können, ist Zukunft? China! von Frank Sieren. Der seit 1994 in China lebende Journalist bietet hier einen spannenden und faszinierenden Einblick in die rasante wirtschaftliche, technologische und geopolitische Entwicklung Chinas; darein, wie zielgerichtet Peking sich für die Zukunft aufstellt, während Europa und Deutschland anscheinend im 20. Jahrhundert hängen geblieben sind.

Besonders interessant fand ich das Kapitel über die Investitionen Chinas in Afrika, wo man nicht als Brunnen bauende, belehrende Entwicklungshelfer auftritt, sondern als relativ gleichberechtigte Geschäftspartner Infrastruktur massiv ausbaut und hunderttausende Arbeitsplätze schafft. Die Staaten allerdings auch mit Überwachungstechnologien ausstattet, was Sieren weglässt, Strittmatter aber erwähnt.

Einen besonderen Narren hat Sieren an der Autoindustrie Chinas gefressen, die uns in der Autonation Deutschland inzwischen weit voraus ist in Sachen E-Mobilität. Genüsslich führt er sämtliche Versäumnisse der deutschen Regierung, der Industrie selbst und der Europäischen Union auf – teils schon zu hämisch. Während er vor Begeisterung über die Neue Seidenstraße kaum an sich halten kann.

Teilweise bombardiert er uns mit Zahlen und Fakten (für die übrigens jegliche Quellenangaben fehlen, Fuß- oder Endnoten gibt es keine), weiß aber auch viel Interessantes zu berichten. Während Strittmatter sich auf die Menschen konzentriert und wie sich das repressive System auf sie auswirkt, konzentriert sich Sieren voll und ganz auf die positiven Seiten der jüngsten Entwicklungen, weiß hier und da mal ein kritisches Wort zu äußern, bleibt aber insgesamt eher auf Parteilinie. Was auch daran liegen könnte, dass er uns aufrütteln will, China endlich ernst zu nehmen.

Denn in einem sind sich beide einig, der Einfluss Chinas auf die Welt ist schon gewaltig und geht tiefer und weiter als uns bewusst sein dürfte.

Künstliche Intelligenz

Geht es um China und dessen wirtschaftliche und technologische Entwicklung, kommt man früher oder später immer beim Thema künstliche Intelligenz an. Noch stammen die größten Fortschritte aus Großbritannien (Deepmind) und dem Silicon Valley, doch China holt rasant auf, und ist vor allem konsequent bei der praktischen Umsetzung. Gesichtserkennung wird inzwischen sogar an Flughäfen bei den Sicherheitskontrollen benutzt, so dass man keinen Pass mehr vorzeigen muss. Man geht einfach durch, während das System einen erkennt. Strittmatter zählt in seinem Buch einige Beispiele auf und schildert, wie wenig Bewusstsein für den Missbrauch ihrer Systeme die Unternehmer haben. Wie das Thema KI in China wahrgenommen wird, davon zeugen die fünfzehn Kurzgeschichten in der Anthologie Quantenträume.

"Quantenträume" - Anthologie

  • Xia Jia
  • Liu Yang
  • Fei Dao
  • Sun Wanglu
  • Luo Longxiang
  • Shuang Chimu
  • Hang Song
  • Gu Shi
  • Liu Weijia
  • Wang Jinkang
  • Hao Jingfang
  • Baoshu
  • A Queu
  • Ling Chen
  • Karin Betz
  • Johannes Fiederling
  • Marc Hermann
  • Michael Kahn-Ackermann
  • Eva Lüdi Kong

Entstanden sind die Kurzgeschichten zwischen 2000 und 2019 und decken eine große thematische Bandbreite ab. Sie setzen sich durchaus mit moralischen Fragen zum Thema KI aus, spannend ist aber vor allem, was sie nicht ansprechen: Missbrauch der Technologie durch Regierungen und Unternehmen.

Es sind auch nicht alles wirkliche KI-Geschichten, teilweise geht es mehr um Roboter. Die Qualität der Story schwankt, ist insgesamt aber recht hoch. Unter meinen persönlichen Highlights befindet sich unter anderem eine Geschichte, die in einer wirklich fernen Zukunft auf einer zerstörten Erde spielt. Baoshu erzählt in Tochter des Meeres von einer aus Nano-Technologie bestehenden Frau, die von einer langen Reise im All auf eine zerstörte Erde zurückkehrt und nach dem Ursprung des Lebens sucht.

Die zweite herausragende Geschichte ist Shuang Chimus Der Wannengeist, eine Hommage an die Richter-Bao-Geschichten, die zu den großen Klassikern der chinesischen Literatur zählen. Hier geht es um die KI einer Fußbadewanne und die gerichtliche Klärung, wem sie eigentlich gehört.

Teilweise wird auf die Auswirkungen unseres sozialen Miteinanders eingegangen, wie in Hao Jingfangs Wo bist du, doch die Geschichten kratzen nur an der Oberfläche. Manche sind klassische Robotergeschichten, in denen es um die Identität und Haftbarkeit einer KI in Robotergestalt geht, wie in Liu Yangs Das Hausmädchen.

Unterhaltsam wird es, wenn eher altmodische Motive und Settings aufgegriffen werden, in Fei Daos Der Geschichten erzählende Roboter zum Beispiel, der an 1001 Nacht erinnert und eine schöne Pointe aufweist. Oder in Luo Longxiangs Hotel Titania, einer Geschichte, die aus den 1950er-Jahren stammen könnte, und schildert, wie Roboter auf einem autonom arbeitenden Hotelplaneten eskalieren. Hier zeigt sich, wie auch in den Werken von Cixin Liu, der große Einfluss der englischsprachigen Science Fiction vergangener Jahrzehnte.

Insgesamt ist Quantenträume durchaus eine lesenswerte Anthologie zum Thema Künstliche Intelligenz, die hier und da interessante Ansätze und Perspektiven aufweist, aber eben auch zeigt, dass man aus China unter den aktuellen repressiven Bedingungen keine allzu kritische Literatur erwarten kann.

 

Filmtipps

Bi Gans Long Day’s Journey into Night erzählt in hypnotisierenden Bildern von einem Mann, der in die Stadt, aus der er einst floh, zurückkehrt, und sich auf die Suche nach einer Frau begibt. Basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Eugene O’Neill zeigt er eine ganz andere und faszinierende Seite des ländlichen Chinas, in Bildern, die an die fiebrige Intensität der Filme Wong Kar-Wais erinnern, aber doch ihren ganz eigenen Stil entwickeln, inklusiver eines mitreißenden 60-minütigen One-Take-Shot, der in 3D gefilmt wurde. Junges, aufregendes Kino aus China. Leider bisher nicht in Deutschland erschienen.

In Feuerwerk am helllichten Tage erzählt Regisseur Diao Yinan von einem abgehalfterten Ermittler, der nach einer missglückten Verhaftung  den Dienst quittiert, Jahre später aber immer noch nach dem Serienmörder von damals sucht, der in einer Bergbaustadt im Norden Chinas zuschlägt. Anders als bei Jia Zhangke wird hier das Leben in der Provinz nicht porträtiert, dafür erfährt man zu wenig über die Protagonist*innen. Doch die Kleinstadt liefert eine interessante Kulisse für ein Filmnoir-Krimidrama, das weniger von seiner Spannung lebt, als von seinen wunderschönen Bildern in frostiger Kulisse sowie den Schauspielleistungen.

"Orakelknochen - Eine Zeitreise durch China" von Peter Hessler

10 Jahre lebte der Journalist Peter Hessler in China. Angefangen hatte das alles mit dem Friedenskorps, dem er beigetreten war, um in der chinesischen Provinz (in Fuling) Englisch zu unterrichten und Chinesisch zu lernen.

DAS Chinesisch gibt es nicht. In China werden viele Sprachen gesprochen, was man aber in der Regel meint, ist Hochchinesisch oder Mandarin, das als offizielle Landessprache gilt. Trotzdem werden in den vielen unterschiedlichen Provinzen unterschiedliche Dialekte und Sprachen gesprochen, was für die unzähligen Wanderarbeiter, die in die Metropolen und Sonderwirtschaftszonen wie Shenzen reisen, zu Verständigungsproblemen führt.

Hessler hat Mandarin gelernt und ein großes Interesse an der Geschichte der chinesischen Sprache, der Schriftzeichen und der Kulturgeschichte entwickelt. Daher auch die titelgebenden Orakelknochen, mit deren Entstehung und vor allem deren Erforschung sich Hessler intensiv beschäftigt hat. Denn die Orakelknochen sind die ersten Nachweise einer chinesischen Schrift. Aus ihnen hat sich (mit einigen Umwegen) das heute etablierte (wenn auch umstrittene) Zeichensystem mit fast 10.000 unterschiedlichen Zeichen in quadratischer Form entwickelt.

Cheng Mengija und die Orakelknochen

Die Erforschung dieser Zeichen und vor allem die Orakelknochenkoryphäe Cheng Mengija bilden einen der beiden roten Fäden, die sich durch das Buch ziehen und ihm Struktur verleihen. Mengija gilt als einer der wegweisenden Gelehrten in der Orakelknochenforschung, die durch die turbulenten politischen Umstände im 20. Jahrhundert einige Hindernisse zu überwinden hatte. Erst haben die Japaner das Land besetzt und über 200.000 Menschen beim berüchtigten Massaker von Nanjing ermordet, dann kamen die Kuomintang unter Chiang Kai Schek an die Macht, wurden aber schon bald von den Kommunisten um Mao Zedong vertrieben, unter dessen Herrschaft vor allem die blutige Kulturrevolution den Menschen und vor allem den Gelehrten das Leben schwer machte.

1967 beging Chen Mengija unter rätselhaften Umständen Selbstmord. Peter Hessler hat es sich zur Aufgabe gemacht, mehr über sein Leben und seinen Tod herauszufinden. Dazu besuchte er zahlreiche alte Weggefährten, Freunde, ehemalige Studenten und Kollegen des Forschers, die teilweise die 90 Jahre schon deutlich überschritten haben, aber immer noch rüstig sind und vor allem einen messerscharfen Verstand und klare Erinnerungen besitzen.

Die Wanderarbeiter*innen

Den zweiten roten Faden bildet die Geschichte einiger ehemaliger Student*innen Hesslers, die als junge Wanderarbeiter*innen durch China ziehen, und das Schicksal des gewitzten Uiguren Polat, der ein guter Freund des Autos wurde. Viele von Hessler Student*innen aus der Provinz Fuling halten auch noch lange, nachdem er die Schule dort verlassen hat, Kontakt zu ihm, schreiben ihm Briefe, telefonieren mit ihm oder werden von ihm besucht. Einige, wie William z. B. unterrichten selbst Englisch an Schulen, andere, wie Emily landen in den Fabriken der boomenden Sonderwirtschaftszonen. Das sind Planstädte, die eigens dafür gebaut wurden, die Wirtschaftskraft Chinas voranzutreiben.

In Hesslers Buch gibt es zwei unterschiedliche Arten von Kapiteln. In denen, die von den jungen, ehemaligen Student*innen erzählen und die aktuelle Lage in China behandeln, geht der Autor größtenteils chronologisch vor, angefangen im Mai 1999 bis Juni 2002. Wobei Hessler durchaus mal vor und zurückspringt, wenn es thematisch angebracht ist.

Die zweite Art von Kapitel laufen unter dem Titel Artefakt und beschäftigen sich mit archäologischen Funden (wie z. B. den Orakelknochen) und dem Leben von Cheng Mengija. In ihnen versucht Hessler auch, einen Überblick der Kulturgeschichte Chinas von den ersten Dynastien, aus denen die Orakelknochen stammen, bis zur Gegenwart zu liefern – was ihm erstaunlich gut und verständlich gelingt. Die beiden Kapitelarten wechseln regelmäßig ab, so dass die Lektüre abwechslungsreich und spannend bleibt und am Ende ein stimmiges Gesamtbild ergibt.

Der Blick des Außenseiters

Hessler wirft zwar den Blick eines Außenseiters – eines „ausländischen Teufels“ – auf China, ist aber den normalen Menschen und dem Alltag sehr nahe. Er macht nicht einfach eine längere Reise durch das Land, sondern lebt wirklich dort – und zwar nicht in den abgeschotteten Bezirken der Diplomat*innen und Auslandskorrespondent*innen, sondern illegal in einem ganz normalen Wohnviertel. Er schließt viele Freundschaften mit Einheimischen und nimmt an deren Leben teil. Hessler ist nicht der Typ, der mit der ganzen Auslandsclique in irgendwelchen Hotelbars abhängt, sondern mit seinem uigurischen Freund Polat in einem uigurischen Restaurant im russischen Viertel isst, während der Kellner die gekühlten Bierflaschen aus der Kanalisation angelt und Polat fragwürdigen Geldwechselgeschäften nachgeht. Hessler ist kein außenstehender Beobachter, er nimmt direkt am Geschehen teil und unterstützt Polat zum Beispiel bei dessen Ansinnen, politisches Asyl in den USA zu beantragen, und geht dabei auch eigene Risiken ein.

Was mir ein wenig fehlt, ist Hessler persönliche Meinung, wie er sich in bestimmte Situationen fühlt oder was er denkt. Auch über sein Privatleben erfährt man kaum etwas. Aber er bemüht sich, viele verschiedene Perspektiven darzustellen, und interviewt ebenso Regierungsbeamten, wie einfache Bauern, Anhänger von Falun Gong oder Mitglieder verfolgter Minderheiten.

Zwischendurch bringt er immer wieder größere Themen aus dem Weltgeschehen mit ein. Zum Beispiel die Reaktionen der Chinesen auf die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad. Oder die Olympiabewerbung Chinas – er begleitet z. B. eine Inspektionsgruppe des IOC auf einer recht absurden Besichtigungstour. Hessler gelingt es tatsächlich in einem Buch sowohl die Geschichte Chinas, die Entwicklung der Schriftzeichen, aktuelle politische Themen als auch das Leben einfacher junger Chinesinnen und Chinesen in einer stimmigen Mischung auf engbedruckten 600 Seiten unterzubringen, auf denen ich mich zu keinem Zeitpunkt gelangweilt habe.

Die Übersetzung

Zu guter Letzt muss ich noch die Übersetzung von Paul Buller loben. In dem Buch geht es viel um Sprache und um sprachliche Unterschiede zwischen Chinesisch und Englisch. Viele Übersetzungskuriositäten und Probleme schildert Hessler anhand von Beispielen aus dem Englischen. Das macht eine Übersetzung in eine dritte Sprache nicht gerade einfach, aber Buller hat das gut gelöst und die englischen Beispiele und die chinesischen Schriftzeichen gut mit in die deutsche Übersetzung eingebunden.

Das Buch wurde 2006 geschrieben, in den 15 Jahren, die seitdem vergangen sind, hat sich unheimlich viel in China verändert. Für aktuellere Einblicke sind die oben vorgestellten Bücher besser geeignet. Trotzdem dürfte Orakelknochen immer noch eine hochinteressante Lektüre sein, die faszinierende Einblicke in die Geschichte und Kultur Chinas gewährt.

In den nächsten beiden Ausgaben von lesenswelt wird es um andere Themen gehen, doch danach werde ich mich ausführlich dem Thema Hongkong widmen: der Geschichte der Kronkolonie, ihrer Literatur, dem Kino und der aktuellen politischen Situation. Ansonsten verweise ich an dieser Stelle noch auf meinen Artikel Wegsehen, boykottieren, kritisieren? Cixin Liu und die Uiguren, der bei Tor Online erschienen ist, allerdings vor Lektüre der obigen Bücher geschrieben wurde. Auf meinem alten Blog Translate or Die gibt es auch eine Besprechung von Cixin Lius The Three Body Problem aus dem Jahr 2015.

Die nächste Ausgabe von lesenswelt erscheint am 1. April 2021.

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