Heaven | Mieko Kawakami
Pogopuschel | Veröffentlicht am |
Ich habe schon lange kein Buch mehr gelesen, das so schwer zu lesen war – und zwar im Sinne von heftig. Mit Splatter und knallharten Thrillern, mit Büchern, wie Jack Ketchums Evil, in dem eine Jugendliche von ihren Nachbarn zu Tode gequält wird, habe ich keine Probleme. Und als Sozialpädagoge habe ich in der Jugendhilfe mitbekommen, was Kindern von Erwachsenen im realen Leben angetan wird. Aber wenn es darum geht, was Kinder sich gegenseitig antun, ist das für mich zu schwer zu ertragen.
Heaven war meine letzte E-Book-Lektüre, also das Buch, zu dem ich greife, wenn mir das gedruckte Buch für die Augen zu anstrengend wird. Das lese ich also auch immer in meiner Lesestunde vor dem Einschlafen. Doch bei Heaven musste ich diese Lesegewohnheit ändern, da ich nach einer besonders heftigen Misshandlung-Szene Schwierigkeiten hatten einzuschlafen. Während meiner Schulzeit hatte ich nie selbst Probleme mit Mobbing und Bullying, aber Mieko Kawakami beschreibt das hier alles so eindringlich, dass es mir unter die Haut ging.
Der namenlose 14-jährige Ich-Erzähler schildert uns seinen Leidensweg in der Mittelschule, wie seine Klassenkameraden ihn piesacken, misshandeln, erniedrigen – und das in einer Regelmäßigkeit und Intensität, die täglicher Folter gleichkommt. Dazu seine Hilflosigkeit, niemanden zu haben, an die er sich wenden kann. Keine Lehrer*innen, nicht den stets abwesenden Vater, aber auch nicht die rührige Stiefmutter, mit der er sich so gut versteht.
Durch Briefe, die er in sein Pult erhält, freundet er sich mit Kojima an, die von ihren Mitschülerinnen ebenso gequält wird. Es entwickelt sich eine zärtliche, sehr zurückhaltende Freundschaft zweier Menschen, die durch das gleiche schreckliche Schicksal zueinanderfinden.
Über weite Strecken erzählt das Buch eine klassische Geschichte von einem Jugendlichen, der von seinen Mitschülern gemobbt und misshandelt wird, interessant wird es, wenn er einen seiner Bullys mit dessen Taten konfrontiert, und was der für eine nihilistische Begründung liefert, die aufzeigt, wie unterschiedlich die Perspektiven und Ansichten zum Leben sein können. Hier erreicht das Buch eine sehr philosophische Ebene, die mir in Hinsicht der psychologischen Erklärung gar nicht so weit hergeholt erscheint.
Heaven ist ein Buch, das Menschen, die Ähnliches in ihrer Kindheit, oder vielleicht auch später am Arbeitsplatz erlebt haben, triggern könnte. Deswegen spoiler ich hier schon mal ganz frei, dass die Geschichte zu einem versöhnlichen Ende kommt. Trotzdem ist der Weg dorthin heftig.
Das Buch ist großartig geschrieben, geht unter die Haust und wurde zurecht für den International Booker Prize nominiert, trotzdem hatte ich aus den oben erwähnten Gründen beim Lesen nicht so viel Spaß wie bei Breasts and Eggs von Mieko Kawakami. Das hatte ich hier kürzlich besprochen.
Ich habe die englische Ausgabe in der ausgezeichneten Übersetzung von Sam Bett und David Boyd gelesen, einfach, weil mir deren Übersetzung von Breasts and Eggs schon gut gefallen hat. Auf Deutsch ist Heaven bei DuMont in der Übersetzung von Katja Busson erschienen.
Und jetzt noch ein paar Worte zum Thema Mobbing.
Während der Pandemie gab es die weit verbreitete Annahme, dass die Schulschließungen und der Fernunterricht für die meisten Schüler*innen eine schlimme Sache sei. Die fehlenden Sozialkontakte, der psychische Druck. Und da mag auch sicher was dran sein. Hinzu kommen jene, die in, beengten, schlechten und schlimmen Verhältnissen wohnen. Aber es gab auch jene, für die das Homeschooling, die körperliche Abwesenheit der Mitschüler*innen eine unglaubliche Erleichterung gewesen sein muss.
Für jene, die von ihren Mitschüler*innen gemobbt und misshandelt werden, und die dem nicht entkommen können. Also solche Schüler*innen wie der Ich-Erzähler und Kojima, die Hauptfiguren von Heaven.
Wenn Klassenkamerad*innen im Nachhinein behaupten, nichts mitbekommen zu haben, lügen sie. Wenn innerhalb der Klasse gemobbt wird, bekommen das alle mit. Und wenn es kein einziger der Lehrer*innen mitbekommt, dann nur, weil sie es nicht mitbekommen wollen. Weil sie die Anzeichen dafür bewusst übersehen, ignorieren und sich nicht genügend Mühe geben, genau hinzusehen. Egal, wie schlecht die Arbeitsbedingungen an der Schule sein mögen. Raum dafür muss geschaffen werden, im Hamsterrad des ewigen Trotts.
Das soll keine Anklage einzelner Lehrer*innen sein, engagierte Einzelfallbeispiele gibt es immer wieder, und auch Schulen, die vielversprechende Konzepte gut umsetzen, in der großen Masse versagt das System Schule aber, wenn es darum geht, seine Schutzbefohlenen voreinander zu schützen und ihnen einen Rahmen zu schaffen, in dem sie sich sicher fühlen können.
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