The Mosquito | Timothy C. Winegard
Pogopuschel | Veröffentlicht am |
Wer ist der gefährlichste Killer des Menschen? Welches Lebewesen stellt für uns die größte Bedrohung dar? Und war es schon immer? Für alle, die es aus dem Buchtitel noch nicht erraten haben, sei gespoilert: die Stechmücke. Und das noch vor uns selbst. Auch wenn wir gerade wieder fleißig dabei sind, aufzuholen.
Bzzzzzz … wer kennt es nicht, dieses hochfrequente Summen, in der Nähe des Ohrs, das uns signalisiert, dass sich eine Stechmücke auf der Pirsch befindet, weil ihr nach unserem Blut dürstet. Besonders schön, wenn es kurz vor dem Einschlafen auftaucht … Bzzzzzz … und wir nun die Wahl haben, uns selbst auf die Jagd zu begeben und um den Schlaf zu bringen, oder mit der Gewissheit einzuschlafen, am nächsten Morgen möglicherweise zerstochen zu sein. Bzzzzzz … Doch in unseren Gefilden ist das – noch – ein Luxusproblem, da die bei uns zur Zeit heimischen Arten keine gefährlichen Krankheiten übertragen und nur für nervig juckende Stellen sorgen. In anderen Teilen der Welt sieht das ganz anders aus. Bzzzzzz …
Die Stechmücke oder Moskito, hat schon vor 165 Millionen Jahren die Dinosaurier geplagt und ihre Darstellung in Jurrasic Park, wo aus ihrem Blut Dino-DNA gewonnen wird, ist erstaunlich akkurat. In diesem Buch erzählt uns Timothy C. Winegard die Geschichte der Menschheit unter dem Einfluss der Stechmücke. Und der ist gewaltig und hat im Lauf der letzten 3.000 Jahre zahlreiche Schlachten, Schicksale und Weltenläufe beeinflusst – und Millionen von Menschen das Leben gekostet.
Dazu sei angemerkt, dass Autor Winegard weder Biologe noch Mediziner ist, sondern Historiker mit einem Schwerpunkt auf Militärgeschichte. Und genau darauf liegt auch der Fokus dieses Buches. Von Xerxes über Alexander den Großen, Hannibal, Atilla, Dschingis Khan, Cortes, George Washington und den amerikanische Bürgerkrieg, kaum ein großes militärisches Unterfangen, das nicht maßgeblich durch die Stechmücke beeinflusst oder gar entschieden wurde.
Das Buch hält auch eine Menge unterhaltsamer Anekdoten zu historischen Persönlichkeiten parat, wie z. B. zu Oliver Cromwell, der, schwer an Malaria erkrankt, sich noch auf dem Sterbebett weigerte, das erwiesene (und damals noch wirkende) Heilmittel Chinin einzunehmen, weil es von einem Jesuiten entdeckt wurde, und er nichts mit katholischem Zeug zu tun haben wollte und lieber gestorben ist. Was mich direkt an die erkrankten Corona-Leugner denken lässt, die das Virus noch mit ihren letzten Atemzügen leugnen.
Mir war auch nicht bewusst, wie weit verbreitet Krankheiten wie Malaria und Gelbfieber hier in Europa waren. Nicht nur in den Sümpfen und Marschen Athens und Roms, sondern auch in gemäßigten Klimabereichen, wie den Fens in England oder in Kanada.
Was mir bekannt war, ist die Tatsache, dass die Mortalitätsrate von Europäern in Afrika vor der Entdeckung des Chinins bei fast 90% lag und es deshalb als »der dunkle Kontinent« bezeichnet wurde, einfach, weil keine Europäer ihn erkunden konnten und der Sklavenhandel nur möglich war, weil afrikanische Sklavenhändler die Sklaven aus dem Inland zu europäischen Stützpunkten an den Küsten brachten.
Winegard hat hier eine logische und faszinierende Theorie in eine unterhaltsame und spannende Erzählung gepackt. Aber wie glaubhaft ist sie wirklich? Er beruft sich durchaus auf historische Fakten, die gewaltigen (wenn auch oft nur geschätzten) Opferzahlen von Menschen, die an von Stechmücken übertragenen Krankheiten gestorben sind, sprechen Bände. Aber müsste ich in einer Prozentzahl angeben, wie hoch die Glaubwürdigkeit seiner Gesamargumentation und Theorie liegt, würde ich gefühlt 80% nennen. Wobei ich keinerlei Fakten oder Fachkenntnisse besitze, um meine Einschätzung zu belegen.
Für meinen Geschmack zitiert Winegard gerade zu Beginn in Bezug auf die prähistorische Zeit etwas zu häufig populärwissenschaftliche Werke von Autoren wie Jared Diamond oder Yuval Noah Harari, beruft sich im Verlauf aber verstärkt auf eine Fülle an Quellen, von Expert*innen, die sich jeweils intensiv mit den einzelnen Bereichen und Ereignissen beschäftigt und Forschungsarbeiten veröffentlicht haben, fasst sie in diesem Buch zu einem mehr oder weniger stimmigen Ganzen zusammen, geht dabei aber kaum auf die Methodik der Studien und der Forschungsarbeiten ein. Hier hätte ich mir etwas mehr wissenschaftliche Tiefe gewünscht.
Manchmal wirkt der Einfluss der Stechmücke auch, als würde er ihn sich fürs Narrativ ein wenig zurechtbiegen. Immer dann, wenn eine Stadt wie Rom gerade angegriffen wird, fallen die Stechmücken über die belagernden Heere her und raffen sie in Massen dahin. Immer dann, wenn Frieden herrscht, leiden die Bewohner*innen der Stadt unter ihnen. Erst sterben die europäischen Kolonisten wie die Fliegen, kaum geraten sie in Konflikt mit den europäischen Kolonialmächten, mit Soldaten, die frisch eingetroffen sind, sind sie erstaunlich resistent gegen die Parasiten und Bakterien. Andere Seuchen wie Cholera oder Typhus werden unterschätzt.
Ich möchte hier nicht infrage stellen, dass es in den meisten Fällen wirklich so abgelaufen ist, frage mich aber schon, wie genau die Angaben über Todesopfer und die Todesursachen (auch gerade bei einigen historischen Persönlichkeiten) wirklich sind?
Winegard bezeichnet die Mücken auch immer wieder als General Anopheles und General Aedes, bindet sie in die Erzählung ein, als würden sie mit menschlicher Motivation und militärischem Gespür agieren. Womit er die Seriosität seines eigenen Werks zumindest ein wenig torpediert. Außerdem wird es in der ständigen Wiederholung etwas ermüdend.
Ab dem 1. Weltkrieg wird es aber wieder interessanter, wenn die Stechmücke endlich als Ursache für die ganzen Infektionen ausgemacht wird und konkrete Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung unternommen werden. Mussolini lässt die Sümpfe um Rom aufwendig trocken legen (was die Nazis in einer Racheaktion kurz vor Kriegsende wieder rückgängig machen). DDT wird als Stechmückenvernichter entwickelt, das Militär baut Einheiten auf, die ganze Gebiete und Inseln von Stechmücken befreien können und die Infektionsrate teils um 90% senken. Und es werden Medikamente gegen Malaria entwickelt, bzw. gegen die von den Stechmücken übertragenen Würmer, die allerdings schon bald wieder Resistenzen entwickeln.
Nach dem 2. Weltkrieg baut zunächst die UN ein Programm zur Malarie-Bekämpfung aus, das sie in den 1970ern fatalerweise wieder einstellt, was zu neuen Infektionswellen führt. Später die Bill und Melinda Gates Stiftung. Niemand sonst investiert so viel Geld in die Malarie-Erforschung und Bekämpfung. In diesen letzten Teil wird Winegard auch wissenschaftlicher, geht mehr in die Details der Forschung ein und generell auf die Entwicklung von Zoonosen, und gibt in dem 2019 erschienenen Buch eine Prognose ab, die ich schon öfters in vergleichbaren Büchern gelesen habe, und die im Prinzip ein Ereignis wie die Corona-Pandemie voraussagt, inklusive der Einschätzung, dass wir Menschen es uns selbst zuzuschreiben haben, dadurch, dass wir unerbittlich auch in die letzten Lebensräume von Tieren eindringen, durch die solche Krankheiten dann auf uns überspringen. Und er geht auf die Gefahren ein, die durch eine Manipulation der gentischen Struktur von Steckmücke entstehen könnten.
Trotz aller Zweifel und Kritikpunkte handelt es sich bei The Mosquito um ein faszinierendes Werk, das uns einen neuen Blick auf die Menschheitsgeschichte liefert. Erfrischend ist auch Winegards Blick auf die wahrscheinlicheren Abläufe bestimmter glorifizierter Ereignisse, die von den Siegern bis heute teils ganz anders in den Geschichts- und Schulbüchern dargestellt werden. Das Buch kann in einer Reihe mit Howard Zinn A People’s History of the United States und David Graebers und David Wangrows The Dawn of Everything: A New History of Humanity genannt werden.
Es verschiebt Perspektiven und zeigt auf, wo die wirklichen Bedrohungen für uns Menschen liegen. Denn durch die Klimakrise und die damit einhergehende Erderwärmung erobern sich jene Stechmücke, die Krankheiten wie Malaria, Gelbfieber oder Dengue-Fieber übertragen (was nur wenige Arten von Stechmücken betrifft) Lebensräume zurück, aus denen sie einst verschwunden sind. Interessant ist aber auch der Blick auf die Stechmücke mit ihren übertragenen Krankheiten als Regulativ der Natur, das dafür sorgt, dass die Erde nicht überbevölkert wird. Das wirkt auf den ersten Blick wie ein herzloser und kalter Blick auf die Menschheitsgeschichte und einzelne Schicksale, aber die Natur kennt keine Empathie. Natürlich sollten wir versuchen, solche Krankheiten zu heilen, bekämpfen und auszurotten, aber wie die Geschichte der Menschheit und der Evolution gezeigt haben: Die Natur findet einen Weg.
Auf Deutsch ist das Buch unter dem Titel Die Mücke: Das gefährlichste Tier der Welt und die Geschichte der Menschheit in der Übersetzung von Henning Dedekind und Heike Schlatterer bei TERRA MATER BOOKS erschienen. Ich habe das englische Original im E-Book gelesen.
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