In fernen Gefilden | Joanna Russ

Zu den Klassikern der Phantastik, die bei uns in den letzten Jahren leider etwas in Vergessenheit geraten sind, gehört das Werk der feministischen Autorin Joanna Russ, die das Genre bereits in den 1960ern auf den Kopf gestellt hat. Jetzt gibt es endlich eine angemessene Werkausgabe auf Deutsch, deren ersten Band ich hier bespreche.

Die gedruckte Ausgabe von "In fernen Gefilden" mit dem Cover nach vorne in einem Bücherrregal stehend.

Fantasy und Science Fiction lese ich seit meinem 14 Lebensjahr, also seit 30 Jahren, darunter auch immer wieder Klassiker. Der Name Joanna Russ ist mir in dieser Zeit immer wieder begegnet, und doch habe ich bis vor Kurzem nichts von ihr gelesen. So richtig auf den Schirm bekam ich sie vor ein paar Jahren, als mir James Sullivan von ihr und ihren Alyx-Geschichten vorschwärmte, und in meiner Lektüre der Biografie von James Tiptree Jr. alias Alice B. Sheldon war sie durch ihre Brieffreundschaft mit Tiptree sehr präsent. Ihre Romane sind sogar alle auf Deutsch erschienen, aber, wenn ich das richtig sehe, zuletzt Mitte der 1980er. Seitdem gab es wohl keine Neuauflagen und sie geriet bei uns ein wenig in Vergessenheit. Und so konnte ich sie beim Stöbern in den Buchhandlungen und später im Internet – anders als z. B. Ursula K. Le Guin – auch gar nicht entdecken.

Dem hat der noch junge Verlag Carcosa von Hannes Riffel (ehemals Golkonda und Fischer Tor) Abhilfe geschaffen. In fernen Gefilden ist Band 1 einer dreibändigen Werkausgabe mit den wichtigsten Erzählungen von Joanna Russ. Enthalten sind hier ihre Alyx-Kurzgeschichten, die Novelle Picknick auf Paradies sowie einige Rezensionen anderer Werke und zwei Essays von Russ.

Gleich vorweg, die Alyx-Geschichten bauen, anders als ich erwartetet hatte, nur lose aufeinander auf und hängen teils gar nicht zusammen. Alyx ist mehr die Idee einer Figur, die hier in unterschiedlichen Varianten auftritt.

In Blaustrumpf lernen wir Alyx in der Stadt Ourdh kennen, die in der Vergangenheit unserer Welt ebenso liegen könnte wie in einer Fantasywelt. Eine junge Frau, bittet Alyx, sie bei ihrer Flucht vor der Zwangsehe zu begleiten. Aus der anfänglichen Antipathie entwickelt sich auf der abenteuerlichen Bootsfahrt eine innige Beziehung zwischen den beiden, die allerdings recht absurd endet. Wie auch die anderen Geschichten, ist diese hier im historischen Kontext zu lesen, denn sie erschien in einer Zeit, in der die Helden – mit Ausnahme von C. L. Moores Jhirel of Joiry – blond und männlich waren, und Frauen sich leicht bekleidet von ihnen zu retten lassen hatten. Und hier kommt Russ mit zwei weiblichen Heldinnen, die sich gegen Seeungeheuer ebenso zu wehren wissen wie gegen Männerungeheur. Und dabei wird noch eine gleichgeschlechtliche Beziehung angedeutet. Die Geschichte selbst liest sich nicht sonderlich spannend, und fällt heute gar nicht mehr so auf, aber ich habe mir vorgestellt, sie im Jahr 1967 zu lesen, und konnte sie so als den wegbereitenden Meilenstein genießen, der sie ist.

Ich dachte, sie hätte Angst, bis sie mir über den Bart strich ist die Geschichte einer Emanzipation. Die junge Alyx lebt in einer toxischen Ehe mit gewalttätigem Ehemann, den sie dann folgerichtig erschlägt und sich auf eine Abenteuerreise mit zwielichtigen Gestalten begibt, bis sie schließlich dort ankommt, wo sie sich am wohlsten fühlt.

Und in Ourdh lebt Die Barbarin als Diebin und Assassinin, bis sie an einen merkwürdigen Kerl mit seltsamen Gerätschaften gerät, für den sie einen Auftrag erledigen soll, der nicht ist, was er scheint. Hier verlässt Russ die reine Fantasy und zeigt, dass sie sich nicht nur um Geschlechtergrenzen nicht schert, sondern auch nicht um Genregrenzen.

Mit dem Kurzroman Picknick auf Paradies hatte ich Schwierigkeiten, warm zu werden, und das nicht nur wegen der frostigen Temperaturen, die dort herrschen, sondern weil er einen Bruch mit den bisherigen Geschichten darstellt und Alyx als Temporalagentin in eine ferne Zukunft führt, wo sie eine Touristengruppe über einen sehr gefährlichen Planeten führen muss, auf dem auch noch ein obskurer Krieg herrscht. So ganz habe ich nicht verstanden, was es mit dem Ganzen auf sich hat. Auch die Figuren der hochgewachsenen Tourist*innen blieb mir ziemlich fremd. Erst als der Überlebenskampf so richtig losging, hat mich die Geschichte stärker gepackt.

Hätte ich den Roman alleinstehend und nicht direkt im Anschluss an die anderen drei Geschichten oben gelesen, wäre ich vielleicht etwas besser zurechtgekommen.

Mit Die zweite Inquisition haben wir wieder eine ganz andere Art von Story, in der Alyx auch gar nicht wirklich mitspielt. Eine Coming-of-Age-Geschichte, in den USA der 1920-Jahre, in der ein sechzehnjähriges Mädchen bei ihren Eltern mit einer sonderbaren oder eher bemerkenswerten Gästin aufwächst. Ich glaube, ohne die SF-Elemente, die gegen Ende auch wieder leicht absurde Züge annehmen, hätte mir die Geschichte noch besser gefallen, schlecht fand ich sie aber nicht. Allerdings wirkte die Sechzehnjährige in ihrem Verhalten oft deutlich jünger.

Eine Partie Vlet ist die letzte der Alyx-Geschichten, die Russ schrieb, als sie eigentlich schon keine mehr schreiben wollte. Als Geliebte des Gouverneurs spielt Alyx mit einem Revolutionär ein schachartiges Spiel namens Vliet, das Einfluss auf die realen Ereignisse in der Stadt nimmt, die man wohl als Aufstand bezeichnen kann. Kurz, knackig, ideenreich und elegant. Ein gelungener Abschluss für Alyx.

Nach den Kurzgeschichten folgen noch einige Rezensionen, die Joanna Russ für verschiedene Magazine verfasst hat und zeigen, wie gnadenlos sie mit Büchern und deren Autor*innen umging. Aber stets nachvollziehbar begründet und anschaulich erklärt, welche Vorstellungen sie von Science Fiction hat. Würde heute ein*e Autor*in so über die Werke von Kollg*innen im Internet schreiben, dann wär was los.

Zum Abschluss folgen noch zwei Essays. Tagtraumliteratur und Science Fiction hat mir vor allem wegen des Begriffs Tagtraumliteratur gefallen, so ganz konnte ich der Argumentation aber nicht folgen, was daran liegen könnte, dass ich viele der Beispiele und Autoren nicht mal vom Namen her kenne.

Das Frauenbild in der Science Fiction zeigt klar und nachvollziehbar aus, dass Frauen bis dato nur als Beiwerk oder Trophäe in der Science Fiction stattgefunden haben. Ein Essay, der auch heute nichts an Aktualität verloren hat.

Insgesamt habe ich In Fernen Gefilden gerne gelesen, und werde das auch mit den Folgebänden machen, die ganz große Begeisterung wollte beim Lesen aber nicht aufkommen. Könnte daran liegen, dass meine Lesegewohnheiten mit dem Stil der 60er- und 70er-Jahre nicht mehr so ganz zurechtkommt. Vielleicht war es auch die flapsige Art, mit der Russ ihre Figuren und Handlungen schildert, die auf mich nicht immer ganz kohärent wirkte, oder ihr Humor hat nicht ganz bei mir gezündet. Trotzdem bin ich froh, den Band gelesen zu haben, denn im historischen Kontext stellen die Alyx-Geschichten einen wichtigen, bahnbrechenden Beitrag dar, und sind ein frühes Beispiel für progressive Phantastik.

Die Übersetzungen stammen von Hannes Riffel, Erik Simon und Thomas Ziegler.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert