Das Ende der Ehe | Emilia Roig

Für eine Revolution der Liebe

Hardcover-Ausgabe von "Das Ende der Ehe" mit dem Cover nach vorne auf einem Buchregal stehend.

Ich bin 43 Jahre alt, männlich, cis, weiß, Single. Mit dem Konzept der Ehe habe ich noch nie etwas anfangen können. Früher aus einer Anti-Establishment-Haltung heraus, weil es für mich eine Spießer-Angelegenheit war, heute aus vielschichtigeren Gründen. Auch egoistische. Ich bin gerne für mich. Viele der Gründe, gegen die Ehe, die Emilia Roig in ihrem Buch nachvollziehbar und gut belegt anführt, gehören dazu, andere hatte ich noch nicht so richtig auf dem Schirm, finde sie aber alle einleuchtend.

Die ersten Seiten des Buchs habe ich noch leicht grummelnd gelesen, da ich mich durchaus als männlich identifiziere, auch wenn ich dieser Kategorie persönlich keine große Bedeutung beimesse und mir das binäre Denken als eine überflüssige Einschränkung und Gängelung erscheint. Das Grummeln legte sich aber schnell und machte der Einsicht platz, dass Roig hier systemisch über das Konzept von Männlichkeit und Männer im großen Ganzen schreibt. Ich fühle mich von ihrer Argumentation nicht angegriffen. Statt in eine Abwehrhaltung zu gehen, sollten wir Männer uns lieber darauf einlassen. Die Ehe und das weitverbreitete Konzept von Männlichkeit sind feste Säulen des Patriarchats, von dem vor allem wir Männer profitieren, und zwar, indem Frauen unterdrückt und benachteiligt werden. Es hat viele Fortschritte gegeben, auf dem Papier scheinen wir der Gleichberechtigung immer näher zu rücken, doch die Unterdrückung zeigt sich auf viel subtilere Weise jeden Tag. Emilia Roig hat sie für uns präzise und nachvollziehbar aufgedröselt.

Die Nachteile der Ehe (für die Frau)

Die Care-Arbeit, die immer noch überwiegend von Frauen ausgeführt wird, vor allem, wenn es um den Haushalt und die Kinder geht, für die Frauen ihre Karriere sowie ihre finanzielle Unabhängigkeit opfern, während es den Männern ermöglicht, beruflich voranzukommen und viel Geld zu verdienen (nachweislich mehr als ohne Frau).

Die überholte, aber immer noch überpräsente Vorstellung, dass es Arbeiten speziell für Frauen und (die weniger unangenehmen) für Männer gibt, was zur konstanten Herablassung gegenüber sogenannten Frauenberufen und schlechterer Bezahlung für sie führt, während die Care-Arbeit im Haushalt und der Familie überhaupt nicht bezahlt wird.

Der soziale Druck, der durch die heteronormative Denkstruktur in den Köpfen des Umfelds entsteht. „Wann ist es denn so weit?“ „Denkt ihr schon über Kinder nach?“ „Du musst ihm jetzt den Rücken freihalten.“ „Die biologische Uhr tickt.“ All die Ratschläge, die in Jahrhunderten des männlichen Privilegs entstanden sind, und auch heute noch durch die Köpfe vieler Männer und Frauen geistern.

Die emotionale Arbeit, die auf den Schultern der Frau lastet, ihm ständig zu gefallen, es ihm ja nur recht zu machen – alles ganz auf die Bedürfnisse des Mannes ausgerichtet.

Bekannte Theorien und persönliche Erfahrungen

Emilia Roig stützt sich hier auf die Arbeit zahlreicher Feministinnen und Wissenschaftler*innen, die all das und mehr ausgiebig erforscht und herausgearbeitet haben, und verbindet es mit persönlichen Erfahrungen (sie war neun Jahre verheiratet), die all den Theorien, Beobachtungen und Feststellungen eine persönliche Note verleihen, sie greifbar machen. Ich habe auch schon Texte dieser Autorinnen gelesen, bin mit vielem vertraut, mit manchem eher weniger, aber so gut und klar zusammengefasst habe ich es bisher noch nicht gelesen.

Viele mögen das Buch und seine Thesen als radikal empfinden, aber wirklich radikal ist doch die weiterhin bestehende systematische und perfide Unterdrückung von Frauen, die permanente Gewalt, denen sie ausgesetzt sind, dem Hass, den Femiziden. Radikal ist die Kultur, die Jungen von klein auf eintrichtert, dass sie den Mädchen gegenüber überlegen seien. Eine Kultur, in der, – auch in unserem Land – Frauen rechtlich und finanziell schlechter dastehen als Männer, vor allem in der Ehe, aber auch, wenn sie alleinerziehende Mütter sind. Eine Kultur, in der alles, was nicht dem Idealbild heteronormativer Männlichkeit entspricht, als minderwertig gilt, als „nicht normal“, als Störfaktor in der patriarchalen Ordnung, den es zu beseitigen gibt. Die aktuelle Welle an Repressionen und Gewalt gegen trans Menschen ist das beste Beispiel dafür.

Die großen Zusammenhänge

Und alles hängt mit allem zusammen, was Roig gut erklärt: wie Absolutismus und Kolonialismus die Welt unterjocht und unterdrückt haben. Kulturen, in denen es ganz andere Lebensmodelle als die heteronormative Ehe gab, deren Gesellschaft kein Patriarchat waren, in dem Männer das Sagen hatten, und Frauen als minderwertig galten. Rassismus, Misogynie, Antisemitismus, Homohass, Hass gegen alles Fremde, alles, was anders ist als die vermeintliche Norm – das kommt alles aus der gleichen Ecke.

Emilia Roig klagt in diesem Buch nicht nur an, sie klärt auch auf und zeigt, wie es anders gehen kann. Welche Lebensmodelle, welche gesellschaftlichen Strukturen die Ehe ersetzen können. Das mag alles utopisch klingen, wie aus einem Science-Fiction-Roman von Becky Chambers, aber alle Revolutionen haben mit kleinen Schritten angefangen (vermute ich mal).

Und kommt mir nicht mit: „Aber nicht alle Männer …“, es sind immer noch genügend, dass sich nicht schnell genug ausreichend etwas ändert. Und ich bekomme in meinem Umfeld mit, wie Männer untereinander teils über Frauen reden, wie übers Gendern gemeckert wird, und das „aber das Sorgerecht der Väter“-Argument gebracht wird; wie sie sich angegriffen fühlen, wenn von „alten weißen Männern“ die Rede ist.

Die meisten weißen Männer wissen gar nicht, wie privilegiert sie sind, aber sie müssen es ahnen, wie Roig weiß, denn sonst würde die Aussicht auf wirkliche Gleichberechtigung sie nicht so in Panik versetzen. Und hier muss, so wie die Autorin es auch tut, noch erwähnt werden, dass es dem Feminismus (und auch allen anderen ähnlichen sozialen Bewegungen) nicht darum geht, jetzt die (weißen) Männer zu unterdrücken, sondern einfach nur genauso behandelt zu werden, wie sie. Frauen, People of Color, Menschen aus dem LGBTQI+-Spektrum, Behinderte, sie wollen alle nur gleichberechtigt und fair behandelt und gleichgestellt werden. Und es sind vor allem wir Männer, die dem im Weg stehen – nicht nur, aber überwiegend.

Der Kern unserer Gesellschaft

Aber was hat die Ehe damit zu tun? Sie steht im Kern unserer Gesellschaft. Alles ist auf die klassische Ehe zwischen Mann und Frau ausgerichtet. Das komplette Wirtschaftssystem verlässt sich darauf, dass die Frauen sich kostenlos um die Kinder kümmern, während die Männer sich voll der Arbeit im neoliberalen Kapitalismus hingeben können. Selbst unsere Gesetze, ja das Grundgesetz, sind darauf ausgerichtet. Das Steuerrecht. Fragt mal alleinerziehende Mütter.

Alles, was aus dem Rahmen fällt und nicht der klassischen Kernfamilie entspricht, wird sanktioniert. Entweder ganz offiziell durch die Behörden, oder einfach durch uns als Gesellschaft, indem wir sozialen Druck auf diese Menschen ausüben, die nicht in unser Weltbild passen. Und nicht selten auch durch Gewalt.

Gewalt gegen Frauen, vor allem in klassischen Beziehungen, wenn der Mann seine Dominanz demonstrieren muss, wenn er es nicht ertragen kann, verlassen oder zurückgewiesen zu werden.

Gewalt gegen Menschen, die anders aussehen, sich anders verhalten. Die aus dem Konzept der Kernfamilie herausfallen.

Und im Zentrum von all dem steht die Ehe. Emilia Roig ist überzeugt, dass sich all die oben aufgeführten Missstände – wenn auch nicht ganz abschaffen, dann doch maßgeblich verbessern lassen, indem wir die Ehe als staatlich reglementierte Institution mit all ihren Privilegien abschaffen und zu neuen, nachhaltigeren und gesünderen Formen der Gemeinschaft und des Zusammenlebens übergehen.

Ein langer Weg

Und ich finde, sie hat da einen guten Punkt. Denn so wie bisher kann es nicht weitergehen. Die Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigungen, Femizide, all das nimmt wieder zu oder hat immer noch erschreckende Ausmaße. Jede Zeitungsmeldung mit Überschriften wie „Familientragödie“, wenn wieder ein Mann seine Frau, seine Partnerin (und vielleicht sogar die Kinder) ermordet hat, zeigt, dass wir noch einen langen Weg zu gehen haben.

So lange gewältige Menschen wie Till Schweiger selbst nach #meetoo noch immer vom System gestützt und geschützt werden, hat unsere Gesellschaft ein massives Problem.

In den USA sehen wir, wie (von vorwiegend weißen Männer) ein Krieg gegen Frauen und deren Selbstbestimmung geführt wird, mit den ganzen neuen Gesetzen gegen Abtreibung. Männer, die Macht über den weiblichen Körper ausüben wollen. Gefolgt von weiteren radikalen Gesetzen und Gesetzesinitiativen begleitet von einem medialen Kreuzzug gegen trans Menschen, LGBTQ+, gegen Drag Shows, aber auch Schwarze Menschen, in dem verboten wird, amerikanische Geschichte nach den Fakten zu unterrichten. Bücher-Verbote. Don’t-Say-Gay-Gesetze usw. in einem (noch) halbwegs demokratischen Land, das eines der Ursprungsländer des Feminismus ist. Eine führende Nation und Gesellschaft für die Rechte von Frauen, People of color und queeren Menschen. Das sich jetzt wieder auf dem Weg zurück in die Steinzeit, oder zumindest die 1950er-Jahre befindet, angetrieben von einem radikalen christlichen Faschismus, der die Ehe und das Bild von der heteronormativen Kernfamilie für seine Zwecke nutzt. Also ja, das Thema ist immer noch hochaktuell. Aber ich schweife ab.

Eine erstrebenswerte Zukunft

Emilia Roigs Utopie, in der Geschlecht keine Rolle mehr spielt, in der das binäre Denken, das nur männlich/weiblich kennt, überwunden ist, in der jeder sein Leben so führen kann, wie er will, vom Staat unbehelligt, ist für mich eine erstrebenswerte Zukunft. Und gar nicht so unrealistisch, wie wir meinen, denn wie Roig richtig erwähnt, wer hätte vor hundert Jahren gedacht, welche großen gesellschaftlichen Fortschritte und Errungenschaften, die es inzwischen gibt, wirklich realistisch seien.

Das Buch ist keine Anklageschrift gegen uns Männer, kein Vorwurf, an jene Frauen, die gerne verheiratet sind, sondern ein Denkanstoß, eine Aufforderung, uns und unsere Gesellschaft zu hinterfragen, die Fakten zu betrachten und sie unideologisch abzuwägen. Und uns die Frage zu stellen, wie können wir die Situation für alle benachteiligten Personen verbessern, welchen Beitrag können wir leisten?

Individualisierung struktureller Personen ist hier – wie auch in der Klimakrise – keine Lösung. Es muss die Systemfrage gestellt werden. Der Druck muss auf die Politik ausgeübt werden.

Ein guter Einstieg

Roig erfindet den Feminismus nicht neu, bezieht sich auf viele Theorien, die es seit Jahrzehnten gibt und zitiert zahlreiche Ikonen des Feminismus. Aber für alle Menschen, die sich nicht schon länger mit Feminismus beschäftigen, bietet das Buch einen guten und relativ zugänglichen Einstieg (wenn ich da z. B. an die Texte von Judith Butler denke, die ich an der Uni gelesen habe …).

Ich könnte noch viel mehr Themen und Aspekte aufführen, was eigentlich wichtig zum Verständnis wäre, aber das hier ist ja keine Buchzusammenfassung. Das müsst ihr und solltet ihr schon lesen. Roig argumentiert für mich von vorne bis hinten schlüssig, baut ihre Argumente gut auf, liefert passende Begründungen und Hintergründe, führt aus, wie es gemeint ist, spricht potenzielle Missverständnisse an und verleiht dem ganzen durch ihre persönlichen Erfahrungen eine einnehmende Nahbarkeit, die aber keines der sachlichen Argumente verwässert.

Okay, das ist jetzt doch nur eine halbe Buchbesprechung und mehr eine Streitschrift geworden. All das habe ich aus dem Buch gezogen, das ich allen, und ich meine wirklich allen, als Lektüre wirklich ans Herz legen kann. Ihr müsst ja gar nicht mit allem übereinstimmen. Aber sich mit Roigs Positionen auseinanderzusetzen halte ich für wichtig. Das ist ein Buch, das an Schulen gelesen werden sollte.

Mir hat es in mancherlei Hinsicht die Augen geöffnet.

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