Länderbericht Japan | Raimund Wördemann/Karin Yamaguchi (Hrsg.)

"Länderbericht Japan" mit dem Cover nach vorne im Buchregal stehend.

Um eine Sprache zu lernen, kann es hilfreich sein, sich mit der Kultur des Landes auseinanderzusetzen. Bei Sprachen, die in vielen Ländern gesprochen werden, wie Englisch, Spanisch, Französisch oder Arabisch ist das sicher nicht notwendig. Muss ich mich mit englischer Kultur auseinandersetzen, mit kanadischer, amerikanischer oder australischer? Muss ich mich mit Spanien beschäftigen (wo auch noch andere Sprachen gesprochen werden), wenn ich nach Argentinien will? Kommt darauf an, wo ich mit der Sprache hinwill, aber kulturelles Hintergrundwissen ist hier nicht unbedingt nötig.

Japanisch

Bei einer Sprache wie Japanisch ist das anders. Zum einen wird sie nur in Japan gesprochen, zum anderen ist sie eine sehr bildliche Sprache mit zahlreichen Zeichen, die oft nur im Kontext verstanden werden können. Und für den Kontext und die Nuancen ist es hilfreich, möglichst viel über japanische Kultur zu wissen.

Doch wo anfangen, wenn es nicht gleich ein Japanologie-Studium sein soll? Ich interessiere mich schon seit meiner Kindheit für Japan, seit ich die ersten Godzilla-Filme gesehen habe, später dann die von Akira Kurosawa, Takeshi Kitano und Sabu sowie Anime wie Akira. Keine Doku über Japan, habe ich mir entgehen lassen, doch eine konzentrierte Beschäftigung mit dem Land war das nicht. Mit der habe ich erst letzten August angefangen, als ich begann, Japanisch zu lernen.

Ein grober Überblick und der japanische Arbeitsmarkt

Für einen groben Überblick erscheint mir der Länderbericht Japan ein guter Einstieg zu sein, da er eine große Bandbreite an Themen mit Übersichtsartikeln abdeckt, nach deren Lektüre man sich auch tiefer mit den jeweiligen Interessengebieten beschäftigen kann.

Den besten Eindruck für den Unterschied zwischen westlicher Kultur und japanischer vermitteln die beiden Artikel über den japanischen Arbeitsmarkt (Martin Pohl) und über Unternehmen (Stefan Lippert). Unternehmen heißen auf Japanisch kaisha (会社) und unterscheiden sich bei genauerem Blick fundamental von den kapitalistischen Firmen in den USA oder Europa. Denn anders als eine westliche Firma, strebt eine kaisha nicht grenzenloses Wachstum und gieriges Profitstreben an. Die Gewinnmaximierung wird sogar gedeckelt, das Wachstum auf ein vernünftiges Maß beschränkt. Es geht um Balance.

Die Mitarbeiter verhalten sich, als würde das Unternehmen ihnen gehören, obwohl sie nur angestellt sind, ohne Gewinnbeteiligung. Trotzdem ist die kaisha eine Gemeinschaft. Und hier kommen wir zum Arbeitsmarkt-Artikel. Wer in Japan die Oberschule oder Uni beendet, strebt keine einfach Arbeitsstelle an, sondern einen Karriereweg. Fast ein komplettes Jahr an der Uni geht für die sorgfältige Auswahl  des Karrierewegs drauf. Denn wer bei einer kaisha anfängt, wird für einen Karriereweg eingestellt und bleibt dort sein restliches Arbeitsleben. Dort wird ein komplexes Netzwerk an Beziehungen zu den Kollegen geknöpft, das für eine Hierarchie jenseits der offiziellen Organigramme sorgt und für Ausländer kaum zu durchschauen ist – geschweige denn, dort je selbst einen Einstieg zu finden. Beförderungen finden nach Seniorität statt, nicht nach Qualifikation oder Leistung. Eine kaisha ist etwas Organisches, fast wie ein Ameisenhaufen. Wer ihn einmal verlässt, für den ist es fast unmöglich in die gleiche Firma zurück oder eine andere zu finden. Dann bleiben nur noch die sogenannten unregulierten Stellen, die inzwischen ein Drittel des Arbeitsmarkts ausmachen, schlecht bezahlt sind und keinerlei Aufstiegsmöglichkeiten bieten.

Diverse Artikel

So viel zu meinen Topempfehlungen aus dem Länderbericht. Doch alle anderen Beiträge sind ebenso lesenswert. Ich bin bei solchen Büchern, in denen sich einzelne Beiträge sammeln, etwas zwanghaft und lese sie brav von vorne nach hinten, statt mir erstmal die Artikel anzusehen, die mich thematisch am meisten interessieren.

Der Einstieg ins Buch verlief allerdings durchwachsen. Der Text von Adolf Muschg wirkt auf mich etwas befremdlich in der Art, wie er über Japan und die Katastrophe von 2011 schreibt. Sehr prätentiös, etwas abgehoben, wenig empathisch. So recht kann ich es nicht in Worte fassen, aber nach Lektüre blieb bei mir ein unangenehmes Gefühl zurück.

Das ist allerdings der einzige Text, der mir nicht gefallen hat. Es gibt welche, die mich thematisch nicht so interessiert haben, aber gleich nach dem holprigen Einstieg geht es mit sehr persönlichen Artikeln weiter.

Marie Miyayama schreibt einfühlsam und plastisch über ihre Zeit in Deutschland und die Zerrissenheit, die entsteht, wenn man in zwei unterschiedlichen Kulturen lebt.

In Mein Leben in Tokio beschreibt Manuel Kraus fünf Spaziergänge in Tokio, die mich in ihrer Schlichtheit und dem Genuss der einfachen Dinge an Jiro Taneguchis Manga Der spazierende Mann erinnern.

Lucy Frickes Text liest sich mit seiner lakonischen Trockenheit ganz amüsant, wirkt aber auch, als würde sie allem, was ihr während ihres dreimonatigen Stipendienaufenthalts in Kyoto begegnet, nur genervtes Desinteresse entgegenbringen. Aber so kurz nach dem Tsunami und der Reaktorkatastrophe von Fukushima fällt es vielleicht auch schwer, Euphorie aufzubringen. Lesenswert ist der Text trotzdem.

Zusammenfassend

Auf alle der 35 Beiträge einzugehen, würde doch etwas zu weit führen, merke ich gerade beim Schreiben dieser Zeilen. Das Buch versucht, möglichst alle Bereiche abzudecken. Leben in Japan, Kultur, Politik und Geschichte, Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei geht es um Themen wie Literatur, Filme, Philosophie, Tod und Trauer usw., verfasst von Leuten, die sich wirklich mit der Materie auskennen, vor allem Deutsche, die in Japan leben, forschen unterrichten und arbeiten, aber auch ein paar Japaner*innen.

Den Beitrag über Tod und Trauer von Alfons Deeken fand ich auch sehr interessant, viele haben ja sicher mitbekommen, dass es in Japan (und auch anderen südostasiatischen Ländern) lange üblich war, todkranken Menschen ihre Diagnose vorzuenthalten und nur die Familie einzuweihen. Da hat inzwischen ein Wandel stattgefunden, so dass es nicht mehr so häufig vorkommt.

Auch das Verhältnis zur Religion ist interessant, sind doch im Prinzip fast alle Japaner*innen Mitglieder einer Sekte (was aber nicht mit unseren kultartigen westlichen Sekten vergleichbar ist), obwohl die meisten eigentlich nicht religiös sind.

Was die Geschichte angeht, ist vor allem der Teil über die Zeit der Meji-Reformationen interessant, die das Land ziemlich umgekrempelt haben.

Es gibt auch zwei Fotostrecken, einen Lyrik-Bereich mit Gedichten und Auszüge aus einem Manga.

Insgesamt ist das Buch für mich ein sehr lohnender Einstieg in die Kultur Japans, von dem aus dann die jeweiligen Interessengebiete weiter vertieft werden können.

Ach ja, ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass das Buch von 2014 ist. Einige der Artikel sind also nicht mehr so ganz aktuell. Der oft erwähnte ehemalige Premierminister Shinzo Abe wurde inzwischen z. B. ermordet. Aber es ist spannend, die Prognosen zu lesen und dann mit der wirklichen Entwicklung abzugleichen.

Das Buch ist bei der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) für 5 Euro plus Versandkosten erhältlich.

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