Arborealität | Rebecca Campbell
Pogopuschel | Veröffentlicht am |
Eine Mischung aus Kurzgeschichtensammlung und Mosaikroman über die Menschen auf Vancouver Island, die sich in einer nahen, sich aber immer weiter entfernenden Zukunft mit den Folgen der Klimakatastrophe, der Natur, der zusammenbrechenden Gesellschaft und schwindenden staatlichen Strukturen arrangieren müssen.

Kürzlich habe ich endlich Octavia Butlers Parable of the Sower (Die Parabel vom Sämann) gelesen und fühlte mich bei der Lektüre von Arborealität wieder daran erinnert. Die Handlung von Butlers 1993 veröffentlichtem Roman setzt im Jahr 2024 ein und erzählt von einer Welt, die unserer Gegenwart erschreckend nahekommt. Arborealität ist im Original 2022 erschienen, spielt ein paar Jahrzehnte weiter in der Zukunft, schlägt aber, was die Entwicklung angeht, eine ähnliche Richtung ein. Beide Bücher erzählen von Zukünften, in denen die Klimakatastrophe bereits verheerende Auswirkungen hat. Beide spielen an der Westküste Nordamerikas, Arborealität nur etwas weiter nördlich auf Vancouver Island, während die Parabel im Umkreis von Los Angeles beginnt und sich dann langsam weiter nördlich vorarbeitet, es aber nie bis Kanada schafft.
In beiden Büchern wüten immer wieder verheerende Brände, die Natur und Häuser zerstören. In Arboralität kommen noch steigendes Wasser und Überflutungen hinzu. In beiden Bänden geht es um den Überlebenskampf verbleibender Menschen in einer Gesellschaft und Zivilisation die zunehmend zerfallen, mit einer Regierung, die sich im Rückzug bzw. der Auflösung befindet.
Und doch sind beides sehr unterschiedliche Bücher. Denn Butler erzählt eine sehr amerikanische Geschichte voller Gewalt, Raub, Brandstiftungen, Mord, Vergewaltigung und Kannibalismus („all of which are American dreams„), während die Regierung autoritärer wird, ihren Aufgaben aber nicht mehr nachkommt und Polizei und Feuerwehr nur noch etwas für Menschen sind, die es sich leisten können und die Natur, in Form von wilden Hunden, zum Feind wird. Ein unerbittlicher Überlebenskampf.
Campbell erzählt hingegen eine sehr kanadische Geschichte, ruhig, naturverbunden, fast ganz ohne Gewalt, mit Menschen, die sich mit der Situation arrangieren, retten, was noch zu retten ist, schon vorsorgen, für den Wiederaufbau der Gesellschaft. Menschen, die mit der Natur umzugehen wissen, die versuchen, mit ihr im Einklang zu leben, nachdem ihre Vorfahren dabei kläglich versagt und alles ruiniert haben. Hier werden kleine Geschichten einer kleinen Gemeinschaft erzählt, die zurückgezogen auf einer Insel leben, nur noch wenig vom Rest der Welt mitbekommen.
Das ist in lose zusammenhängenden Kurzgeschichten mit wechselnden Protagonist*innen aufgebaut, deren Verbindungen sich erst im Verlauf, teils erst in der zusammenführenden letzten Kurzgeschichte, Die Baumkathedrale, erschließen.
Campbell erzählt ruhig, melancholisch mit zahlreichen sehr gelungenen Naturbeschreibungen, fast wie eine Botanikerin, die sich ausmalt, wie es mit der Natur im Zuge der Klimakrise weitergehen könnte.
Meine Lieblingsgeschichte ist die, über den Geigenbauer, die unter anderem erzählt, wie sich der Klang der Geigen bei heutigem Holz durch die gesteigerte CO2-Speicherung der Bäume verändert hat und keine Geige heute mir wie eine von Guarneri klingen kann. Ein bedeutender Fehlschlag heißt sie.
Parallelen zu Butler sehe ich auch in der Geschichte Sondersammlungen, in der es um eine Art Aktion Bücherrettung geht, die durch eigeninitiative und dezentrale Strukturen stattfindet. Während in Parable of the Sower Bücher eine wichtige Rolle im Überlebenskampf spielen, da in ihnen jenes Wissen bewahrt wird, das durch die Auflösung der Gesellschaft mit ihren wissenschaftlichen und bildungstechnischen Strukturen verloren geht. Wissen, dass zum Überleben, aber auch dem Wiederaufbau der Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt, wie sich auch in späteren Geschichten in Arborealität zeigt.
In Kontrolliertes Abbrennen geht es einfach um die Frage, was geschieht, wenn sich die Gemeinschaft um uns herum Stück für Stück auflöst. Nicht durch Gewalt, sondern einfach, weil immer mehr Menschen wegziehen. Was tun wir, wenn wir irgendwann allein sind, mit den leeren Häusern und der Natur?
Rebecca Campbells Stil ist unaufgeregt, mit fast naturalistischen Beschreibungen, trotzdem voller Emotionen und menschlicher Schicksale. Sie zeigt, wie sehr sie sich mit der Natur, die sie hier beschreibt, auskennt, die sie zur zweiten Hauptfigur neben den Menschen in allen Geschichten macht. Eine Natur, die durch unsere Manipulationen aus dem Ruder läuft, unsere eingezäunte Welt ins Wanken bringt, dabei selbst, trotz der dramatischen Folgen für uns, aber relativ ruhig bleibt, weil sie weiß, dass sie auch ohne uns klarkommen wird. Und den Menschen in den Geschichten dämmert, dass sie sich mit dieser Natur arrangieren müssen, um die Folgen der Klimakatastrophe, wenn schon nicht rückgängig machen, dann doch zumindest so abdämpfen müssen, dass eine weitere Koexistenz möglich ist.
Das Buch hat 2023 den Ursula K. Le Guin Prize for Fiction gewonnen, und ich sehe sofort warum. Denn die Einflüsse Le Guins sind überall zu spüren. Gerade in der Art, wie Campbell die Verbindungen zwischen Mensch und Natur und unser Verhältnis zum Planeten beschreibt.
»Arboreality is a eulogy for the world as we know it«, heißt es in der Begründung der Jury. Und das trifft es ziemlich gut. Campbell beschreibt eine Welt, die an unsere erinnert, deren Überbleibsel noch überall präsent sind, die sich aber doch unwiederbringlich im Übergang befindet. Sie erkundet die menschliche Seele und was dieser Übergang mit ihr macht. Trotz allem eine optimistische Geschichte, die uns ein wenig Hoffnung für das geben kann, was in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf uns zukommt.
Das Buch ist in der Übersetzung von Barbara Slawig bei Carcosa erschienen. Ich habe die E-Book-Fassung vom Verlag zur Verfügung gestellt bekommen.
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