Babel: Or the Necessity of Violence | Rebecca F. Kuang

E-Book-Cover von "Babel", zeigt in einer Bleistiftzeichnung den titelgebenden Turm inmitten der malerischen historischen Kulisse von Oxford.

In einem dramatischen Auftakt wird ein chinesischer Junge in Canton von einem Fremden mit Hilfe eines magischen Silberbarrens vor dem drohenden Tod durch die Cholera gerettet. Doch für seine Familie kommt jede Hilfe zu spät. Also tritt er unter die Vormundschaft seines Retters Prof. Lovell, nimmt den Namen Robin Swift an und reist nach England, um dort eine klassische Ausbildung zu erhalten. Mit der beginnt er ein Studium in Oxford, doch nicht an einem der üblichen Colleges, sondern in Babel, einem Turm in dem das Wissen der Welt gehortet und für die Zwecke des britischen Empires nutzbar gemacht wird.

In Babel werden Sprachen gelehrt, Manuskripte übersetzt und Worte in Silberbarren zu magischen Zwecken gebunden. Robin genießt das Studentenleben mit seinen Freund*innen Rami, Victoire und Letty. Als Ausländer und Frauen sind sie Außenseiter in Oxford, aber aufgrund ihrer Sprachkenntnisse heiß begehrt in Babel. Doch irgendwas stimmt hier nicht. Wer ist der mysteriöse Doppelgänger, dem Robin eines Nachts begegnet? Wer erhält die Silberbarren, und zu welchem Zweck? Welches Geheimnis verbirgt Prof. Lovell?

Einen solchen historischen Fantasyroman habe ich seit Jonathan Strange & Mr Norrell nicht mehr gelesen (auch wenn er ganz anders gelagert ist). So mitreißend, gelehrt und spannend. Doch eigentlich ist er sogar noch besser als Susanna Clarkes Roman, packt Rebecca F. Kuang doch so viele aktuelle Themen zu Identität, Gleichberechtigung, Diskriminierung, Kolonialismus, Klassismus und Imperialismus hinein, ohne das es aufgezwungen wirkt. Gleichzeitig ist Babel eine Liebeserklärung an die Sprache und das Übersetzen. Die sechsundzwanzigjährige Kuang (das »u« wird wie ein »w« gesprochen) schreibt so klug darüber, als würde sie seit 20 Jahren Linguistik unterrichten.

In China geboren, in den USA aufgewachsen, mit einem Abschluss in Geschichte von der Georgetown University sowie einem weiterführenden Studium in Cambridge und Oxford schreibt sie so natürlich und von leichter Feder über das Oxford der 1830er Jahre, als hätte sie dort ihr ganzes Leben verbracht. Aber ohne diese romantisierende Cozyness und verklärende Nostalgie, die sich in so vielen Büchern und auch Krimiserien wie Lewis wiederfindet. Trotzdem mit Liebe zur Universität als Ort der Wissensvermittlung und Erlangung.

Enttäuschte Erwartungen?

Ich kann jene Leser*innen verstehen, die vom Roman etwas enttäuscht sind, weil sie etwas wie Jonathan Strange & Mr Norrel erwartet haben, mit viel Magie und verschrobenem Humor, und keine Liebeserklärung an die Sprache und Etymologie, präsentiert in akademischen Lektionen. Aber es gibt auch jene, die beklagen, die Autorin habe noch nie was „Show Don’t Tell“ gehört. Und ich finde es so tragisch, dass viele nur noch Kino im Kopf haben wollen, es aber verlernt oder nie gelernt habe, meisterhafte Erzählkunst zu schätzen, wie Rebecca Kuang sie hier demonstriert.

Wir sitzen hier nicht mit 3D-Brille im Imax-Kino, wo der Dolby-Atmos-Sound uns mit tiefen, basslastig dröhnenden Soundeffekten die Ohren schlackern und das Popcorn im Becher auf und ab hüpfen lässt, als würde der T-Rex gleich aus der Leinwand auf uns zu stapfen.

Wir sitzen in einer stürmischen Herbstnacht am behaglich lodernden Kaminfeuer des Gentlewomens-Club und lauschen gebannt einer leidenschaftlichen Erzählerin, die uns mit lebhafter Stimme, begleitet vom Knistern der brennenden Holzscheite, von einer längst vergangenen Zeit erzählt, die uns thematisch doch so nah ist. Wir sitzen mit geschlossenen Augen im gepolsterten Lehnsessel, wo uns kein Spektakel Kino im Kopf erzeugt, sondern uns gekonnte Erzählkunst in eine andere Welt, eine andere Zeit versetzt, so dass wir den tosenden Sturm vor den klappernden Fensterläden vergessen und vier junge Menschen durch die gepflasterten Straßen Oxfords begleiten, die Lehrbücher fest unter die Arme geklemmt, schnellen Schrittes eilend, um ja nicht das nächste Seminar zu verpassen.

Dark Academia und Dekolonisierung

Babel ist aber auch klassische Dark Academia ganz in Tradition von Donna Tarts Die geheime Geschichte, über eine Gruppe von Studienfreund*innen, die ein dunkles Geheimnis teilen, das die Freundschaft belastet und die Gruppendynamik unheilvoll verändert.

Das Magiesystem (nur sehr dezent eingesetzt) ist ein kleiner Geniestreich. Denn im Prinzip basiert es auf Kolonialismus. Es ist die kapitalistische Ausbeutung verschiedener Sprachen, die dem Empire einverleibt werden, gegen das die Protagonist*innen kämpfen. Ihr Protest, ihr subversives Handeln strebt Dekolonisierung an.

Babel ist ein hochaktueller historischer Roman, dessen moderne Themen und Ansätze im historischen Setting trotzdem nicht fehl am Platz wirken, denn viele Probleme, die wir heute haben, stammen aus dieser Zeit, haben jede Liberalisierung überdauert, manchmal in den Schatten gelauert, zwischen den Zeilen, treten in Zyklen aber immer wieder sehr offen zu Tage und zeigen, wie dünn das Konstrukt unserer vermeintlichen Zivilisation doch ist.

Lettie ist die Personifizierung von „Was weiße Menschen über Rassismus wissen sollten, aber nicht hören wollen“ (etnwickelt sich im Verlauf aber differenzierter). Ramy der aus einer Kolonie stammende Ausländer, dem seine Herkunft am Stärksten anzusehen ist, der noch so eloquent, charmant und kompetent sein kann, aber trotzdem diskriminiert und angefeindet wird. Robin geht je nach Licht als Weißer durch. Und die aus Haiti stammende Victoire wird meist für ein Dienstmädchen gehalten, weshalb sie keine Bedrohung darstellt und eine Überlebenskünstlerin ist.

Kuang dekonstruiert auch die Motive hinter so vielen liberalen Errungenschaften, wie der Abschaffung der Sklaverei in England. Hält uns den Spiegel vor, uns weißen, privilegierten Menschen, die wir uns für so liberal, so offen und unrassistisch halten, aber nicht einmal die Geschichte richtig zu deuten wissen, und auch mit besten Absichten herablassend und beratungsresistent und defensiv daherkommen, wenn wir auf unsere Defizite hingewiesen werden.

Worauf der Roman hinarbeitet, ist gelebte Intersektionalität. Minderheiten und verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Partikularinteressen, die Gemeinsamkeiten und Überschneidungen ihrer Interessen entdecken und sich gegen einen gemeinsamen Feind zusammenschließen.

Die Macht der Sprache

Sprache hat Macht. Sprache ist Macht. Im Roman wirkt sich die Macht der Sprache ganz konkret durch die Silberbarren aus, in einer Form, die Magie gleichkommt. Doch um zu sehen, welche Macht Sprache in unserer Welt hat, müssen wir uns nur die aktuelle Diskussion ums Gendern in Deutschland ansehen. Für die betroffenen Menschen, die jahrhundertelang durch Sprache diskriminiert, unterdrückt, ignoriert, bekämpft und unsichtbar gemacht wurden, stellen solche sprachlichen Fortschritte ein Empowerment dar, wobei sie eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollten, ein Menschenrecht, für das wir uns nicht feiern sollten, wenn wir es gewähren und übernehmen. Für jene, die keifend dagegen giften, weil sie der rechten Propaganda glauben, das Gendern würde ihnen etwas wegnehmen, stellte es den Verlust von Macht dar. Ganz gleich, ob damit reale oder eine eingebildete Macht gemeint ist.

Die Macht der Sprache zeigt sich auch in modernster Technologie, denn auch Maschinenlernen bzw. künstliche Intelligenz funktioniert über Sprache, Programmiersprache. Das Silberwerk in Babel kann also auch als Allegorie auf die jüngsten drastischen Entwicklungen in Sachen Technologie und deren Auswirkungen auf unsere Gesellschaft gelesen werden. Und wie das britische Empire machen wir uns in so vielen Bereichen von dieser einen Technologie abhängig, ohne die Vorteile, die sie mit sich bringen kann, gerecht in der Welt zu verteilen und zu nutzen.

Sprache ist Macht. Wer Englisch beherrscht, kann Babel lesen. Wer Deutsch spricht, kann Babel dank der Übersetzerinnen Heide Franck und Alexandra Jordan auch bald lesen. Wer nur Sprachen kennt, in die das Buch nicht übersetzt wird, bleibt außen vor, wird vom Diskurs ausgeschlossen. Auch dort wird die KI-Technologie vermutlich bald Abhilfe schaffen, wenn wir das Buch in einer uns fremden Sprache vor uns haben, eine augmentierte Brille uns den Text aber direkt vor den Augen in unsere Sprache übersetzt. Dann wird die Kunst des menschlichen Übersetzens irgendwann verloren gehen, das Wissen verschwindet, wir lernen weniger Sprachen, weil die Notwendigkeit nicht mehr besteht, und machen uns abhängig von der Technologie, die vermutlich von einem Monopol beherrscht werden wird. Und wenn dann dort jemand in den Streik tritt und sie uns entzieht, so wie es im Roman möglich ist, stehen wir vor den Ruinen einer vielfältigen und globalisierten Gesellschaft und die babylonische Sprachverwirrung geht von vorne los.

Wo ist unsere Empathie, der Wille, wirklich zuzuhören?

Manche Leser*innen schreiben, die Figuren seien unsympathisch. Sind sie das, oder fehlt eher die Empathie für deren Situationß Sie sind Ausländer, mit dunklerer Hautfarbe, sehen anders aus, als die Mehrheit der Engländer*innen zu dieser Zeit. Sie werden diskriminiert, angefeindet, herablassen behandelt, ausgebeutet und als Instrumente benutzt, die eigenen Heimat zu unterjochen. Aber hey, wenn sie sich darüber beschweren, gelten sie als undankbar, unhöflich, werden als unsympathisch wahrgenommen, weil sie gegen das Unrecht aufbegehren.

Kuang gelingt es toll, die Gruppendynamik zwischen den vier Freund*innen auf- und auszubauen, welche Gemeinsamkeiten sie haben, warum sie sich aneinander klammern, sich einen eigenen kleinen Safe Space untereinander schaffen. Aber auch die Spannungen und Animositäten, das Unverständnis gegenüber den Problemen der jeweils anderen. Und natürlich die tragische Entwicklung, die das Ganze nimmt.

Was als cozy Campusroman beginnt, nimmt – ohne zu viel zu spoilern – eine dramatische Entwicklung, die emotional mitreißt und all die Konflikte der Geschichte in einem furiosen Finale zusammenführt.

Für mich ist Babel, or the Necessity of Violence der beste Fantasyroman, den ich seit Jahren gelesen habe. Er stand zu Recht auf Platz eins der Besstellerlisten der Sunday und New York Times und auch auf vielen Jahresbestenlisten als bester Fantasyroman des Jahres. Am 28. April erscheint er bei Eichborn auf Deutsch. Denis Scheck zeigte sich in Druckfrisch bereits schwer begeistert, trotzdem glaube ich, dass er es auf dem deutschsprachigen Buchmarkt leider schwer haben wird. Anspruchsvolle Phantastik, die auch noch aktuelle Themen aufgreift, hat hier leider nicht so ein großes Publikum wie international (siehe meinen Blogeintrag Ist der Markt für anspruchsvolle Phantastik im Arsch?).

Ich hoffe, ich liege falsch, denn Babel ist nicht nur ein großartiges und phantastisches Buch, sondern auch ein wichtiges. Ein Roman, der zeigt, wie vielschichtig und vielseitig Fantasy sein kann. Von einer Autorin, der es nicht nur gelingt, ihre eigene Leidenschaft für Sprachen so mitreißend zu schildern, sondern auch ihre Wut zu vielen Themen, die hoffentlich viele von uns Leser*innen zum Nachdenken bringt.

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