lesenswelt #4: Hongkong von den Opiumkriegen bis zu den aktuellen Protesten

Mit China habe ich mich bereits in der ersten Ausgabe von lesenswelt beschäftigt. Vor allem mit den Auswirkungen der Präsidentschaft Xi Jinpings und der digitalen Diktatur, die in den letzten Jahren fast bis zur Perfektion und totalen Unterwerfung des Volkes aufgebaut wurde. In diesem Beitrag geht es jetzt um Hongkong. Über die Umstände, aus denen diese außergewöhnliche Stadt entstanden ist und wie sie zu ihrem Sonderstatus gelangte. Das schildert der Historiker Steven Tsang in seinem Buch A Modern History of Hong Kong ausführlich. Eileen Chang widmet sich in ihren eleganten und bewegenden Kurzgeschichten (Love in a Fallen City) dem gesellschaftlichen (Beziehungs-) Leben in den 1940ern. Einen persönlicheren Eindruck bekommt man in den Memoiren Gweilo: A memoir of a Hong Kong childhood von Martin Both, der in den 1950er-Jahren einen Teil seiner Kindheit dort verbrachte. Chan Ho-Kei erzählt in The Borrowed die Geschichte der Stadt von den 1950ern bis zur Gegenwart in teils brillanten Krimi-Episoden. Den ganz aktuellen Ereignissen widmet sich die Protestikone Joshua Wong – der maßgeblich die Regenschirmdemonstrationen 2017 mitorganisierte – in seinem autobiografischen Buch Unfree Speech. Dazu gibt es noch ein paar Filmtipps.

"A Modern History Of Hong Kong" von Steve Tsang

Die Geschichte Hongkongs ist eine atemberaubende: Ein kleines Fischerdorf, das sich nach dem ersten Opiumkrieg von 1839 in Rekordzeit zu einer modernen Finanzmetropole entwickelte und mit seiner bunt erleuchteten Skyline die Entwicklung Chinas zur Weltmacht um einige Jahrzehnte vorwegnahm. Keine Demokratie, aber doch eine Insel westlich geprägter Kultur und Meinungsfreiheit umgeben vom kommunistischen China.

Steve Tsang fängt ganz vorne an, erzählt detailliert davon, wie die Briten sich einen Handelszugang für ihr Opium nach China mit dem Donnern moderner Kanonenboote erzwangen. Für China, das sich bis zu diesem Zeitpunkt (und über Jahrtausende wohl zurecht) für eine Weltmacht hielt, muss dies einer Götterdämmerung gleich gekommen sein. Der plötzliche Schock, dass man den Anschluss an den globalen Fortschritt verloren hat und sich hilflos gegenüber einer imperialen Macht mit modernen Waffen sieht, denen man nichts entgegenzusetzen hat.

Übersichtlich beschreibt Tsang das organisatorische Chaos der Anfangsjahre, in denen man Hongkong vor allem als strategisch günstig gelegenen Handelsposten sah, nicht als Siedlungskolonie. Beschreibt die Zweiklassengesellschaft, die dort auch vor der Justiz entsteht, obwohl die chinesische Bevölkerung der britischen eigentlich gleichgestellt sein soll.

Zwar hat Tsang die Quellenangaben zwecks Lesbarkeit für eine nichtakademische Leserschaft in Endnoten gepackt, sein Stil ist trotzdem relativ trocken und akademisch. Präzise und nüchtern zählt er die Fakten auf, die für sich alle sehr interessant sind, aber ruhig noch einen Ticken lebhafter hätten beschrieben werden können.

Bis zur Zeit zwischen den Weltkriegen wird viel politisches Klein-Klein beschrieben, welcher Gouverneur welche Position vertrat, wie die oft den Anweisungen Londons widersprachen und wie die Gesetzgebung gehandhabt wurde. Interessant sind die Gesetze zu den sogenannten »mai-tze«, Hausmädchen, die bis in die 1930er in wohlhabenden Haushalten ohne Bezahlung lebten, dort teils ganz gut behandelt wurden, teils aber auch wie Sklaven.

Wichtig ist auch die Rolle Hongkongs in den innenpolitischen Auseinandersetzungen Chinas, dem Sturz der Monarchie, der Zeit der Warlords und der Ausrufung der Republik unter der Kuomintang, die von Beginn an im Konflikt mit den Kommunisten stand.

Der Zweite Weltkrieg

Richtig interessant wird es erst mit der Invasion Japans in China. Hongkong blieb bis zum Angriff auf Pearl Harbor noch in britischer Hand, dann witterten die Japaner die Schwäche des Empires und schlugen zu. Auch Autor Steve Tsang scheint diese Ereignisse interessanter zu finden, als die bis dato pflichtschuldig abgehandelten Fakten, denn seine Schreibe wird spürbar lebhafter. Aber vielleicht liegt es auch an mir, denn gerade das Thema 2. Weltkrieg finde ich noch interessanter, da mir über diese Periode bisher fast nichts über Hongkong bekannt war.

Wobei Tsang die vierjährige Okkupation Hongkongs durch die Japaner relativ schnell abhandelt. Die militärischen Ereignisse davor und danach schildert er noch ausführlich, was die Besetzung aber für die Menschen (mit all den Gräueln und Demütigungen) bedeutete, wird nur ganz allgemein kurz beschrieben. Ihn interessiert mehr das große Bild: dass um die 600.000 Hongkonger nach China flüchteten, und nach dem Krieg zurückkehrten. Die Verhandlungen um die Zukunft der Kolonie, zwischen Großbritannien und der Kuomintang, deren Truppen England benötigte, da ihnen die Manpower vor Ort fehlte, um Hongkong selbst zurückerobern. Und die Lage nachdem Japan kapitulierte und ein beherzter britischer Offizier, der sich vor Ort in Kriegsgefangenschaft befand, den Chinesen zuvorkam und kurzerhand zum japanischen Kommandanten ging, um die Kolonie zurückzufordern.

Sechs Monate führte Cecil Harcourt Hongkong nach dem Krieg unter Militärkommando und machte einen ziemlich guten Job, um die Stadt mit Infrastruktur, Versorgung und Organisation wieder aufzubauen. Hongkong beruhigte sich, während in China ein Bürgerkrieg tobte, zwischen den Kommunisten unter Mao Tse Tung und der Kuomintang unter Chiang Kai Chek. Wie schon in den hundert Jahren zuvor mischte sich die Kronkolonie nicht ein, blieb aber sicherer Hafen für am Konflikt Beteiligte.

Turbulente Zeiten in China und Hongkongs Aufstieg

Wenn Tsang also die Geschichte Hongkongs erzählt, muss der Blick dabei auch immer nach China gehen. Interessanterweise war Mao an Hongkong gar nicht interessiert. Er wollte es lieber den Briten überlassen, um diese so gegen die USA ausspielen zu können. Und so waren die wenigen Maoisten in Hongkong mit ihrer Propaganda und Bombenanschlägen auf sich alleine gestellt und erhielten weder aus China Rückendeckung noch aus der Bevölkerung Hongkongs. Während in China unter den Kommunisten weiter chaotische Zustände herrschten, die zu einer Hungersnot mit Millionen von Toten führte (Großer Sprung nach vorn) und in der Kulturrevolution gipfelte, in der Mao sich noch einmal aufbäumte und die Jugend gegen seine Widersacher in der kommunistischen Partei mobilisierte, florierte der einstige Handelsposten Hongkong nun auch in Sachen leichter Industrie, da viel Unternehmer aus Shanghai die Stabilität der Kronkolonie vorzogen.

China stabilisierte sich erst nach Maos Tod unter der Führung Deng Xiaopings, der später auch für die Verhandlungen zur Rückgabe der geleasten Kolonie an China verantwortlich sein sollte. Das Land öffnete sich dem Westen, empfang Präsident Nixon und kurbelte die Wirtschaft an. Währenddessen sich Hongkong zu einem der wichtigesten internationalen Finanzzentren entwickelte.

Obwohl in Hongkong keine Demokratie herrschte und die Stadt von einem demokratischen Land mit kolonialer Autorität regiert wurde, waren die Bürger Hongkongs Tsang zu Folge ganz zufrieden mit der Lage, da vor allem die Gouverneure Mark Aitchison Young und Alexander Grantham eine kluge und vorausschauende Politik betrieben, die nicht mehr Großbritanniens Profit im Sinn hatten, sondern vor allem das Wohl der Hongkonger.

Hongkongs Protestgeist

Das führte allerdings auch zu einer gewissen Bequemlichkeit der Hongkonger, die weder einen richtigen Protestgeist entwickelten, noch eigene politische Führungspersönlichkeiten, die in den Zeiten der Verhandlungen zwischen GB und China als Stimme der Hongkonger Bürger auftreten konnten. Und es führte auch zu Joshuas Wongs Frage in seinem Buch Unfree Speech, wo denn die Erwachsenen seien, als die Jugend 2012 auf die Straße ging, um gegen den wachsenden autoritären Einfluss Chinas zu protestieren. Die Ausnahme bildete das Jahr 1989, als die chinesische Regierung auf dem Tian’anmen-Platz das Massaker verübte. Da dämmerte den Hongkongern, was ihnen unter der kommunistischen Partei blühen würde, es gingen mehr als 500.000 Menschen auf die Straße und die Zuversicht zur Rückgabe sank drastisch.

A Modern History of Hongkong wurde 2004 geschrieben, also nur acht Jahre nach der Übergabe. Damals war der Einfluss Chinas noch nicht so stark, da mit Hua Jintao ein relativ liberaler Präsident regierte, der seinen Bürgern viele Freiheiten ließ. Trotzdem war die Entwicklung, die unter Xi Jinping einsetze, schon während der Verhandlungen von 1982 bis 84 absehbar. Tsang schildert ausführlich, wie die Regierungen der beiden Ländern selbst in der gemeinsamen Erklärung aneinander vorbeiredeten und das gemeinsam Beschlossene sehr unterschiedlich interpretierten. Wie die Engländer naiv und aus einer schwachen Position an die Sache herangingen, während die Chinesen nicht verstanden, wie Hongkong wirklich tickt.

Dass China die 50 Jahre mit „ein Land, zwei Systeme“ nicht abwarten würde, um seinen Einfluss auf Hongkong auszubauen, war leider eine absehbare Tragödie. Aber dazu mehr in der unten stehenden Besprechung von Joshua Wongs Buch.

Schlecht gealtert ist Tsangs Aussage, Hongkong müsse eine agile Polizeitruppe pflegen, die in der Lage sein müsse, mit Aufständen umzugehen. Die jüngsten Entwicklungen hatte er da wohl nicht vorausgesehen. In der Joshua -Wong-Doku bezeichnet er den Protest der Schüler*innen und die Besetzung des Civic Square aber als die einzige mögliche Reaktion.

Fazit

Wer sich für die Geschichte der ehemaligen Kronkolonie interessiert, kommt an A Modern History Of Hongkong nicht vorbei. Das Buch hat zwar nur 280 Seiten, die sind aber großformatig eng bedruckt, so dass ich die eigentliche Textmenge auf eher 500 Normseite schätze. Stellenweise liest es sich sehr akademisch, da bedient Tsang eindeutig seine Fachkollegen, wenn er jedes einzelne Gremium und jeden Funktionsträger und das Klein-Klein der unzähligen Verhandlungen aufzählt und jede politische Position der unterschiedlichen Entscheidungsträger. Trotzdem beinhaltet das Buch eine spannende Geschichte und einen unverzichtbaren Überblick über die Entwicklungen Hongkongs. Leider ist es nie auf Deutsch erschienen.

Der Autor

Steve Tsang ist ein 1959 in Hongkong geborener und aufgewachsener Politikwissenschaftler und Historiker, der sowohl in Hongkong als auch Oxford studiert hat und aktuell am China-Institut der University of London unterrichtet.

"Love In A Fallen City" von Eileen Chang (Übersetzung Karen S. Kingsbury)

Die 1929 geborene Eileen Chang stammt aus Shanghai, verbrachte aber auch einige Jahre in Hongkong, wo sie Literatur studierte, bevor sie 1955 in die USA auswanderte. Sie stammt aus einer wohlhabenden, aristokratischen Familie, hatte aber einen opiumsüchtigen, launischen Vater, der das Leben in vollen Zügen mit Glücksspiel und Konkubinen genoss. Das erwähne ich hier deshalb, weil sich diese Wesenszüge und Umstände in Changs Geschichten wiederfinden. Zwar erzählt sie von ganz unterschiedlichen Protagonist*innen, die autobiografischen Bezüge durchziehen aber den gesamten Band.

Entstanden sind die hier versammelten sechs Erzählungen zwischen 1943 bis 1947, also genau in der Zeit der japanischen Besatzung und der Rückgabe Hongkongs an die Briten. Die Hauptschauplätze sind Shanghai und vor allem Hongkong. Die Geschichten kreisen meist um Figuren aus der (mehr oder weniger) wohlhabenden Mittelschicht, und es geht vor allem um familiäre Beziehungen: wer wen heiratet, die gesellschaftlichen Implikationen der Heirat und was sie für die Protagonist*innen bedeuten.

Die titelgebende Geschichte Love in Fallen City erzählt von zwei Menschen aus Shanghai, die sich in Hongkong näher kommen, zunächst aus ganz pragmatischen Gründen: Sie ist geschieden, Ende 20 und ihre gesellschaftliche Uhr bezüglich des heiratsfähigen Alters läuft ab. Er ist ein Lebemann, der sich mit vielen Frauen umgibt und nichts Festes sucht. Bis dann die japanischen Bomben auf Hongkong fallen.

Es geht um die Rolle junger Frauen in der starren, konservativen chinesischen Gesellschaft, die ein enges Korsett aufgezwängt bekommen und bestimmte Rollen (Ehefrau, Konkubine, Mutter) zu erfüllen haben. Und es geht um Selbstbestimmung. Auch Chang ist vor ihrem Vater nach Hongkong geflohen, so wie die Protagonistin in Aloeswood Incense: The First Brazier.

Man erhält einen detaillierten Einblick in das chinesische Gesellschafts- und Familienleben, das sich doch stark von dem unseren unterscheidet. Changs Stil ist elegant, präzise und stellenweise sehr poetisch. Sie vermittelt ein lebhaftes Bild Hongkongs, mit einem scharfsinnigen Blick für die kleinen Details.

Zwar gibt es einige Bücher von Chang auch in deutscher Übersetzung, dieses hier meines Wissens nach aber nicht.

In The Mood For Love (Huāyàng Niánhuá)

Wong Kar-Weis siebter Film gilt als sein bester und schönster. Dabei sieht man von Hongkong selbst nicht viel, nur schmale Flure, kleine Zimmer, enge Gassen und schummrige, verregnete Hinterhöfe. Die aber wunderschön und sehr elegant in Szene gesetzt von Kameramann Christopher Doyle. Viel zur Eleganz tragen auch die beiden Hauptdarsteller*innen Maggie Cheung (Cheung Man-Yuk) und Tony Leung (Leung Chiuwai) bei, die zwei Nachbarn spielen, deren jeweiligen Ehepartner*innen eine Affäre miteinander haben, was die beiden dazu führt, sich zärtlich anzunähern und sich langsam zu verlieben. Begleitet wird das Ganze durch die wunderbar melancholische Musik von Shigeru Umebayashi. Man sieht nicht viel von Hongkong, erhält aber intime Einblicke in das Innenleben der Mietshäuser und Büros, das Gewimmel auf beengtem Raum.

"Gweilo: A memoir of a Hong Kong childhood" von Martin Booth

Faszinierende, toll geschriebene Erinnerungen an eine Kindheit im Hongkong der 1950er-Jahre, von einem Jungen, der die Stadt unerschrocken voller Neugierde und vorurteilsfrei erkundet, sich mit den Einheimischen anfreundet und die Sprache lernt. Martin Booth zieht als Neunjähriger mit seinen Eltern nach Hongkong, wo sein Vater einen Schreibtischjob bei der Navy übernimmt, sehr zu dessen Leid aber nur Zivilangestellter ist. Schon die Überfahrt wird spannend beschrieben. Booth hat ein Händchen für Details und dafür, die Umgebung seines neunjährigen Ichs lebhaft vor den Augen der Leser*innen entstehen zu lassen.

Anders als die anderen Expatriats beschränkt sich der Junge nicht auf die Schule und die Enklaven der westlichen Einwohner, sondern stromert unbefangen und furchtlos durch die lebhaften Straßen Hongkongs. Folgt den (für seine britische Nase) exotischen Gerüchen und bewundert staunend die Auslagen der unzähligen Geschäfte und Straßenstände. Er freundet sich mit Einheimischen an, beeindruckt sie mit seinen kantonesischen Sprachkenntnissen und dem blonden Haar, das alle berühren wollen, weil es Glück bringen soll.

Dabei vergisst er aber nicht, die schwierige Ehe seiner Eltern zu schildern, die abenteuerlustige und intelligente Muttter und den strengen, starrsinnigen und sozial ungeschickt agierenden Vater, mit dem er nie ganz warm wird.

Wie in diesem Artikel geschildert, gibt es nur wenig übersetzte Literatur von Hongkongern direkt, dafür umso mehr Bücher von Expatriats. Und aus diesen sticht Gweilo besonders hervor, eben weil es den Blick eines unbefangenen neunjährigen Jungen einnimmt, der Hongkong voller Neugierde, mit einem guten Draht zu den Einheimischen völlig furchtlos erkundet. Unter anderem zieht es ihn nach einem Umzug in die New Territories, wo ihn ein Mitglied der Triaden unter seine Fittiche nimmt, damit dem Jungen bei seinen Streifzügen nichts passiert. Von all den Büchern, die ich hier bespreche, scheint mir dieses am besten das Lebensgefühl Hongkongs zu vermitteln.

Ist leider auch nicht auf Deutsch erschienen. Ich würde es auch nicht übersetzen wollen, da man am Pidgin-Englisch der Hongkonger und Chinesen nur scheitern kann. Trotzdem schade, dass ein solches Hongkong-Defizit auf dem deutschsprachigen Buchmarkt herrscht.

"The Borrowed" von Chan Ho-Kei (Übersetzung Jeremy Tiang)

Schon seit meiner Kindheit bin ich Fan des Hongkong-Kinos. Angefangen hat es mit Jackie Chan und Martial-Arts-Filmen aus dem Hause Shaw Brothers. Bald folgten Fantasyfilme wie A Chinese Ghost Story und ähnliche Werke aus dem Dunstkreis von Tsui Hark sowie die knallharten Actionfilme von John Woo und Johnnie To. Doch so richtig entflammt wurde diese Liebe zu Hongkong erst durch die Filme Wong Kar-Wais, als ich 1996 im Alter von 16 Jahren Fallen Angels sah, gefolgt von Chungking Express, As Tears Go By und Days Of Being Wild, in dem Kameramann Christopher Dolye das Hongkong der 60er Jahre in so betörend schönen Bildern einfängt.

Dementsprechend war ich natürlich sofort Feuer und Flamme, als ich von Chan Ho-Kei The Borrowed las, das nicht nur ein genialer Krimi sein soll, sondern auch ein breites Panorama von Hongkong seit dem Zweiten Weltkrieg. Und das ist es. In sechs Episoden wird aus dem Berufsleben des brillanten Polizeiermittlers Inspector/Superintendend Kwan erzählt, der in der ersten Geschichte einen Fall löst, obwohl er im Koma liegt. Dieser Episode merkt man an, dass sie vom cleveren japanischen Krimi á la Keigo Higashino beeinflusst ist. Von da an macht Autor Chan Sprünge in die Vergangenheit, um jeweils entsprechende und besonders herausstechende Stationen aus Kwans Berufsleben zu schildern, die sich stilistisch stark unterscheiden, aber immer sehr klug konstruiert sind und viel Einblick in das gesellschaftliche Leben Hongkongs liefern.

Die Perspektive wechselt, nicht immer weiß man gleich, aus welcher die jeweilige Geschichte erzählt wird, oft benutzt Chan auch die auktoriale Erzählebene. Bei den überraschenden Wendungen geht er ähnlich wie Jeffery Deaver vor: Lange gaukelt er den Leser*innen vor, sie würden der Perspektive des Ermittlers vollständig folgen und alles wissen, was er weiß. Entscheidende Informationen lässt er dann aber geschickt aus, damit der Ermittler am Ende, und auch auf Etappen zwischen durch, überraschende Erkenntnisse und schließlich die Lösung präsentieren kann.

Doch nicht jede Episode folgt dem klassischen Ermittlungsprinzip. Einmal wird ein Kind entführt und es entwickelt sich ein spannendes Katz-und-Maus-Spiel, bei dem nichts ist, wie es scheint und man viel von der Stadt zu sehen bekommt. Ein anderes Mal überwacht die Polizei ein Hochhaus, in dem sich die meistgesuchten Gangster Hongkongs aufhalten, was schon fast zu einem Belagerungsszenario führt, wie in Johnnie Tos Breaking News. Und in der letzten Episoden geht es um politische Unruhen im Hongkong der 1960er-Jahre, als einige Kommunisten gegen die britische Kolonialmacht aufbegehrten und es für die Polizei Bombenanschläge zu vereiteln gilt.

All die Episoden sind – mal abgesehen vom Ermittler Kwan – geschickt lose miteinander verknüpft, manche Personen treten häufiger auf, andere nur ein, zweimal, aber mit großer Wirkung, die sich vor allem auch dadurch entfaltet, dass die Episoden eben in umgekehrter chronologischer Reihenfolge erzählt werden.

The Borrowed bietet einen faszinierenden und spannenden Einblick in die Geschichte Hongkongs von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart und ist nebenbei auch ein verdammt cleverer Krimi mit denkwürdigen und charmanten Figuren. Die Filmrechte hat übrigens Wong Kar-Wai erworben.

Auf Deutsch ist das Buch unter dem Titel Das Auge von Hongkong erschienen (dabei lautet Kwans Spitzname „Eye of Heaven“ und der Titel The Borrowed bezieht sich auf alle Einwohner Hongkongs und deutet das epische Panorama des Buchs an), leider nur in der Übersetzung der englischen Übersetzung von Jeremy Tiang. Und da ich nicht so auf Übersetzungs-Stille-Post stehe, habe ich mir die englische Fassung gekauft.

Autor Chan Ho-kei stammt aus Hongkong, lebt inzwischen aber in Taiwan. Mit Second Sister (Die zweite Schwester) ist 2017 auf Kantonesisch (2020 auf Englisch u. Deutsch) ein weiterer Roman von ihm erschienen.

"Unfree Speech" von Joshua Wong (mit Jason Y. Ng)

Mit Hilfe von Jason Y. Ng hat Wong nicht nur ein Buch über die aktuelle politische Lage in Hongkong und die Regenschirmproteste geschrieben, sondern erzählt auch seine eigene Geschichte, wie er zu dem rebellischen jungen Mann wurde, der Autoritäten mit rationalen Argumenten infrage stellt. Von seiner Kindheit bei Eltern, die selbst eine aufmüpfige Ader haben; seiner Schulzeit, die von Lernschwäche und seinem losen Mundwerk geprägt war, durch seinen besten Freund aber schon früh zu politischer Bildung und politischem Bewusstsein führte. Seine erste Protestaktion war eine Facebookseite über das schlechte Essen in der Schulkantine, was ihm prompt Ärger mit der Schulleitung einbrachte.

Im Weiteren gründet er die Protestbewegung Scholarism (siehe Doku unten), die später in die politische Partei Demosisto übergeht, der es gelingt, mit Nathan Law und einigen anderen in den Legislative Council gewählt zu werden. Was die Regierung aber nicht zulässt und deren Wahl mit einer spitzfindigen Schikane für ungültig erklärt. In der Folge landet neben Nathan Law auch Joshua Wong (für sechs Monate) im Gefängnis.

Der zweite Teil des Buches besteht aus Briefen, die er während seiner Haft im Jugendgefängnis geschrieben hat. Berichte vom täglichen Drill, den Schikanen des Gefängnispersonals, seinem guten Verhältnis zu seinen Mithäftlingen und seinem politischen Kampf, den er unbeeindruckt fortführt.

In dritten Teil wirft er nochmal einen Blick auf die Gesamtsituation zwischen Hongkong und China, schildert die politische Lage und ihre Akteure und wirft einen Ausblick auf die Zukunft und welche Bedeutung der Kampf um Demokratie in Hongkong für den Rest der Welt hat.

Joshua Wong vergleicht sich gerne mit Superhelden wie Captain America, was im ersten Moment etwas vermessen klingt, doch irgendwie ist er ja tatsächlich ein Held, der es in seinem Kampf für Demokratie und eine besser Zukunft in Kauf nimmt, zu Haftstrafen verurteilt zu werden. Erst kürzlich erhielt er zusätzlich zu seiner 13,5-monatigen Haftstrafe (wegen der Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Tiananmen-Massakers) weitere vier Monate aufgebrummt. Aus Demosisto ist er im letzten Jahr zusammen mit Agnes Chow und Nathan Law zurückgetreten, nachdem das Nationale Sicherheitsgesetz verabschiedet wurde. Demokratiebewegungen werden dadurch als separatistisch und terroristisch behandelt. Bisher wurden Aktivisten wegen verbotener Versammlungen oder Verstoßes gegen das Vermummungsgesetz zu relativ geringen Haftstrafen verurteilt. Mit dem neuen Sicherheitsgesetz könnte sich das ändern und zu drakonischen Strafen führen oder gar der Überführung nach China (was bisher nur durch Entführungen möglich war).

Wie auch immer, Unfree Speech liefert Einblicke in die Gedanken eines jungen Mannes, der sich für eine gute und gerechte Sache einsetzt und seine Freiheit riskiert, im Kampf gegen einen übermächtigen und rücksichtslosen Gegner. Damit ist er Vorbild und Teil einer jungen Generation, die nicht länger hinnimmt, dass die älteren Generationen ihnen ihre Lebensgrundlage und Zukunft nehmen. Eine wichtige Stimme, die es lohnt, gehört bzw. gelesen zu werden.

Unterstützt wurde er beim Verfassen des Buches vom Hongkonger Autor Jason Ng, der auch in der unten vorgestellten Doku zu Wort kommt. Auf Deutsch ist das Buch in der Übersetzung von Irmengard Gabler bei S. Fischer erschienen.

"Joshua: Teenager vs. Superpower" und "Ten Years" (十年)

Diese Netflix-Doku erzählt die Geschichte von Scholarism, jener von Joshua Wong mitgegründeten Protestbewegung gegen einen nationalen Lehrplan voll mit chinesischer Propaganda. Die Bewegung besetzte den von ihnen als Civic Square getauften Platz vor dem Regierungsgebäude, bis die Regierung die Einführung des Lehrplans absagte. Später waren Wong und Scholarism maßgeblich an den Occupy Central-Protesten beteiligt, die als Umbrella Movement in die Geschichtsbücher eingingen, allerdings weniger erfolgreich blieben. Zu Wort kommen hier übrigens auch Jason Ng, der Co-Autor von Wongs Buch Unfree Speech und Steve Tsang. In seinen Memoiren klingt Wong sehr nüchtern und erwachsen, die Doku führt mit ihren Bilder aber gut vor Augen, dass das alles Schüler waren, die diese Proteste gestartet haben.

Ein Episodenfilm aus Hongkong von 2015, dessen fünf Episoden einen Blick in die düstere Zukunft der Stadt werfen. Wie die kommunistische Partei versucht, ein Attentat zu inszenieren, um das nationale Sicherheitsgesetz durchzusetzen; wie ein älterer Taxifahrer Schwierigkeiten bekommt, weil er nur Kantonesisch spricht; über die Unabhängigkeitsbewegung und deren Unterdrückung und einen Lebensmittelhändler, der von einer jungen Garde Druck bekommt, weil er „Local Eggs“ verkauft. Der Film wird von Joshua Wong empfohlen und ist auf Netflix verfügbar. Er spricht wichtige politische Themen aus Perspektive der Hongkonger an, düstere Szenarien, die teilweise noch schneller Wirklichkeit geworden sind, als die Filmemacher es wohl befürchtet haben. Teilweise sind die Episoden aber auch etwas langatmig und holprig inszeniert.

Ein paar Gedanken zum Schluss

Ich bin natürlich kein Fan des Kolonialismus (dessen Folgen bis heute in allen Gesellschaften zu spüren sind) und auch nicht des Britischen Empires. In Indien/Pakistan hat die britische Kolonialpolitik für Millionen von Toten (von wegen friedlicher Übergang in die Unabhängigkeit) und bis heute andauernden Konflikten gesorgt, die irgendwann in einem Atomkrieg münden könnten. Doch auch wenn die Hoheit über Hongkong mit Kanonenbooten erzwungen wurde, ist in der Kronkolonie etwas ganz Besonderes entstanden, von dem die Bürger*innen vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts enorm profitiert haben. Zum Zeitpunkt des Handovers an China lagen das Pro-Kopf-Einkommen und der Lebensstandard Hongkongs deutlich über dem Großbritanniens. Es florierte eine Kultur, die von freier Meinungsäußerung und voller künstlerischer Entfaltung geprägt war; nicht umsonst ist das Hongkong-Kino so berühmt und erfolgreich gewesen. Um so tragischer ist es zu sehen, dass China die Übergangsphase von 50 Jahren nicht respektiert und mit massiven Repressalien gegen die Bevölkerung Hongkongs vorgeht, die nur ihren bisherige Lebensweise halten möchte.

Die Aussichten für Hongkong sind leider düster, umso wichtiger ist es, für die unterdrückte Bevölkerung die Stimme zu erheben und nicht durch eigene finanzielle Interessen in China den Kotau vor der Kommunistischen Partei zu machen, wenn man sich zu den Rechten von Hongkongs Bevölkerung geäußert oder die taiwanesische Flagge gezeigt hat und sich nun das »chinesische Volk« beleidigt fühlt bzw. der Propaganda/Trollapparat der KP so tut (damit meine ich auch dich, John Cena). Ich habe großen Respekt vor Chinas Kultur und den Menschen dort, würde mich sogar als Fan bezeichnen, das sollte einen aber nicht daran hindern, sich kritisch zur Menschenrechtslage in Hongkong aber auch Xinjiang und Tibet zu äußern. Ein so großes, starkes und selbstbewusstes Land wie China sollte so etwas doch aushalten können.

Ausblick

Den Monatsrhythmus für neue Ausgaben von lesenswelt werde ich in Zukunft nicht mehr beibehalten. Ich habe festgestellt, dass er mich zu sehr unter Zeitdruck setzt. Und für ein Projekt, an dem ich keinen Cent verdiene und alleine arbeite, ist mir das doch zu stressig. Die nächste Ausgabe erscheint einfach, wenn sie fertig ist. Kann auch sein, dass ich über den Sommer eine kleine Pause einlegen werde (da ich mich die nächsten drei Monate auf meinen zweiten Roman konzentrieren möchte), mal schauen. Themen und Bücher habe ich schon genug für den Rest des Jahres.