Projekt 562 | Matika Wilbur
Wer sich für die indigene Bevölkerung der USA oder überhaupt die USA interessiert, sollte dieses Buch lesen. Mit Project 562 möchte Matika Wilbur unsere Wahrnehmung der indigenen Bevölkerung Amerikas ändern. Ob ihr dies mit diesem ambitionierten und faszinierenden Projekt gelungen ist, erfahrt ihr in diesem Beitrag.
Als Erklärung vorweg: Ich werde hier das I-Wort, das in Deutschland leider immer noch häufig für die indigene Bevölkerung der USA verwendet wird, nicht ausschreiben, da es sich um die deutsche Variante eines abwertenden und negativ behafteten Begriffs handelt, der von den Kolonisatoren, Unterdrückern und Völkermördern verwendet und geprägt wurden. Von den meisten – wenn auch nicht von allen – indigenen Nordamerikas wird die Verwendung des Begriffs als abwertend und respektlos empfunden. Im Idealfall sollte die genaue Bezeichnung des Tribes, der Nation verwendet werden, wenn die nicht bekannt ist oder es um mehrere geht, eben indigene Bevölkerung. Und wer jetzt schon wutbürgerische Schnappatmung bekommt, ich schreibe hier niemandem vor, wie er was zu tun hat, ich erkläre ausschließlich, wie ich es handhabe, und zwar aus Respekt und Empathie.
Hier in Deutschland haben wir auf den ersten Blick ein deutlich positiveres Bild von der indigenen Bevölkerung der USA, als es in den Staaten selbst der Fall ist. Denn wir wurden nicht so stark von Western á la John Ford geprägt, in denen es immer eine negative Darstellung der Indigenen gab; die reine Propaganda waren, um nachträglich das Abschlachten und den Genozid an der indigenen Bevölkerung zu rechtfertigen, um die weiße Bevölkerung gegen jegliche Reparationsforderungen aufzubringen, und damit die Nachfahren der einstigen Schlächter ruhig auf dem gestohlenen Land schlafen konnte. Sondern von den Büchern Karl Mays und dessen Verfilmungen. Wenn wir uns an Karneval als Cowboys und In* verkleidet haben, waren die In* dabei nicht zwangsläufig die Schurken.
Doch dieser Schein trügt. Denn der von einem Franzosen gespielte Apachen-Häuptling Winnitou ist das Sinnbild des edlen Wilden (noble Savage), und die Darstellung der indigenen Bevölkerung genauso respektlos wie die bei John Ford. Es ist nur ein positiver Rassismus, den wir hier betreiben, der genauso wenig auf die Kultur und Vielfalt der verschiedenen Tribes/Nations eingeht und fast ausschließlich aus einer Fantasy-Folklore besteht.
Und in den letzten Jahren hat sich nicht viel getan, um dieses Bild zu ändern. Es gibt immer noch die Karl-May-Festspiele, in denen weiterhin weiße Europäer Redfacing betreiben und kein Bewusstsein für diese kulturelle Respektlosigkeit herrscht. Und es erscheinen weiter Karl-May-Pastiches. Während international erfolgreiche Serien von Indigenen über Indigene wie Reservation Dogs eher ein Nischendasein fristen und nur einer kleinen Gruppe von Serienliebhabern bekannt ist.
Vereinzelte indigene Autoren erscheinen nur in limitierter Auflage in kleinen Nischenverlagen, während weiße Autoren, die sich als indigene Ausgeben, wie Owl Goingback oder weiße, die über indigene schreiben, wie Tony Hillerman (Dark Winds) ein viel größeres (aber auch nicht allzu großes) Publikum erreichen.
Doch ein realistisches Bild der indigenen Bevölkerung Nordamerikas mit all den Tribes und Nations gibt es weder in der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft, noch bei uns.
562 (inzwischen 574) Nations sind es, die offiziell anerkannt werden. Von Tlingit in Alaska über Kānaka Maoli auf Hawaii bis Bishop Paiute in Kalifornien Und nur wenige davon sind durch verzerrte Darstellungen in Filmen wie z. B. Der letzte Mohikaner oder Der mit dem Wolf tanzt bekannt.
Dies zu ändern hat sich Matika Wilbur, selbst Tulalip und Swinomish, zur Aufgabe gemacht. Dafür hat sie ihre Wohnung gekündigt, sich einen Van gekauft und ist auf zehnjährige Reise durch die USA gegangen, um sämtliche Nations zu besuchen und deren Mitglieder zu fotografieren und interviewen, in der Hoffnung unsere Wahrnehmung der indigenen Bevölkerung dessen, was aktuell als die Vereinigten Staaten von Amerika bekannt ist, zu ändern.
Und was für ein fantastisches Projekt das geworden ist. Mit wunderschönen Fotos und Augen öffnenden Begleittexten von Wilbur selbst aber auch den Porträtierten, stellt sie eine Fülle an faszinierenden, vielfältigen, beeindruckenden Menschen vor.
Trotz der dicke des Buches und der hohen Anzahl an vorgestellten Menschen kann Wilbur natürlich nicht alle 562 Nations/Tribes abdecken, aber ich denke, wir erhalten hier einen repräsentativen Querschnitt, der ein umfassendes Bild entstehen lässt.
Es sind Menschen jeden Alters, die hier vorgestellt werden, aus den unterschiedlichsten Professionen: Hochschulprofessorinnen; Promovierte; Menschen ohne Schulabschluss; Menschen, die kaum Englisch sprechen, nur die indigene Sprache ihres Volkes; Künstlerinnen; Tänzerinnen; spirituelle Menschen; zum Christentum konvertierte, Menschen, die in Boarding Schools Schreckliches erlebt haben; Väter, Mütter, Kinder, Großeltern; Rapper; Filmemacherinnen; Komiker; Schauspielerinnen, Aktvisitiinnen; Menschen, die gegen die US-Regierung geklagt haben; die ihre Alkoholsucht überwunden haben, queere und trans Menschen (Two Spirited) – Menschen.
Eines ist in allen gemein: eine große Verbundenheit zur Natur und ihren Wurzeln. Sie haben von klein auf die Traditionen ihres Tribes gelernt, oder sich erste später selbst erarbeitet, weil sie in der Großstadt auf gewachsen sind oder adoptiert wurden. Sie kümmern sich um den Erhalt ihrer Sprache, unterrichten sie, lernen und lehren Tänze und andere Bräuche.
Das ist nicht nur Traditionsbewusstsein, sondern Notwehr, Widerstand gegen einen Staat und eine Gesellschaft, die über Jahrhunderte versucht haben, diese Traditionen, Sprachen und Kulturen auszulöschen. Bis heute müssen sie für Rechte, die ihnen vertraglich von der Regierung zugesichert wurden, vor Gericht ziehen, weil sich die Regierung einen Scheiß um die eigenen Gesetze und Zusagen schert, wenn es darum geht, indigenes Land auszubeuten.
Sie müssen immer und immer wieder aktiv werden, gegen die Vergiftung und Zerstörung ihres Lebensraums. Wilbur bezeichnet die Amerikan als »what ist currently known as the United States«, und macht damit klar, als was sie Regierung und weiße Mehrheitsgesellschaft sieht: als Besetzer, Unterdrücker. Zwar gibt es Verträge, die den Nation Land und eine gewisse Autonomie zusichern, doch sobald es dort etwas gibt, was sich ausbeuten lässt, was Profit verspricht, sind die das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben wurde. Egal ob es um Wasser geht, das die Stadt Los Angeles will; Ölpipelines durch Reservation; den Bau von Observatorien auf heiligem Land, am Ende siegt die Gier, der Kapitalismus. Und der indigenen Bevölkerung wird wieder vor Augen geführt, dass sie weiterhin Kolonisierte, deren Rechte nur so lange gelten, so lange diese nicht den Zielen von Corporate America in den Weg kommen.
Doch sie verlieren nie ihren Lebensmut, ihre Freude am Leben und den Sinn für Gemeinschaft, im Wissen, dass sie nur gemeinsam bestehen können. In Filmen und Serien werden immer wieder die indigene Tribes gezeigt, die mit Casinos ein Vermögen machen, aber das sind nur wenige Ausnahmen. Die meisten indigenen Bevölkerungen leben in Reservaten immer noch in Armut.
Makita Wilbur liefert uns Einblicke, die ein weißer Fotograf nie erhalten hätte. Von vielen der Menschen wird sie wie ein Familienmitglied aufgenommen. Ein Vertrauen, das sich auszahlt, wie das fertige Buch zeigt, das den Menschen stets respektvoll begegnet, sie in all ihrer Würde zeigt, die Probleme aber nicht verschweigt, die das Leben ihnen entgegenwarf.
Ich habe aus dem Buch eine Menge gelernt. So wusste ich z. B. nicht, dass in den USA wilder Reis wächst, der von einigen indigenen Personen in diesem Buch auf traditionelle Weise im Boot geerntet wird. Traditionsbewusstsein, das Erhalten von Bräuchen und Riten hat bei den indigenen Menschen eine andere Bedeutung als bei uns in Deutschland. Dort geht es um das Bewahren der kulturellen Identität und ums Überleben, den solche Traditionen stiften Gemeinschaft und Erinnern an das, was ihnen genommen, was ihnen angetan wurde. Sie halten eine kulturelle Vielfalt aufrecht, die uns zeigt, was für ein wunderbarer, faszinierender Ort diese Welt doch sein kann und wie wichtig es ist, die Natur zu respektieren und mit ihr im Einklang zu leben, statt sie auszubeuten.
Trotz aller Probleme, der ganzen historischen Verbrechen und Ungerechtigkeiten ist Project 562 kein verbittertes und kein anklagendes Buch, sondern eines, das zeigt, wie es ist, sich dabei aber auf die Lebensfreude und den Humor der Menschen konzentriert. Ihre kulturelle Identität, ihren Optimismus, die Liebe zur Natur, auch wenn nicht verschwiegen wird, wie schwierig das Leben teilweise sein kann.
Aktivismus ist ein großes Thema im Buch. Das hat zwar keine Kapitel im eigentlichen Sinn, zu bestimmten Themen gibt es aber doch Abschnitte, die sich ihnen über mehrere Seiten widmen. Wie z. B. den Protesten gegen den Bau eines neuen Observatoriums oder den Protesten gegen einen Pipelinebau bei Standing Rock in North Dakota.
Das Buch ist ein Gegenentwurf zur seit fast über hundert Jahren währenden stereotypen Darstellung der indigenen Bevölkerung und zeigt wie reichhaltig, vielfältig, faszinierend, kreativ und engagiert diese ist. Project 562 ist eine wahre Schatzgrube an interessanten Lebensgeschichten und Menschen.
Wie schon erwähnt, für alle, die sich für die indigene Bevölkerung oder das, was aktuell als USA bekannt ist, interessieren, sollte dieses Buch Pflichtprogramm sein. Leider ist es nicht auf Deutsch erschienen. Mit 49 Euro ist es auch nicht ganz billig, aber jeden Cent wert.
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