Cyberpunk

Neuromancer – William Gibson (1984)

„Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war“, hieß es 1984 im ersten Satz von Neuromancer (in der Übersetzung von Reinhard Heinz), und plötzlich war alles anders. Cyberpunk heißt das Genre, das den Geist der 1980er-Jahre in einer düsteren, von Computern und Hackern geprägten virtuellen Realität widerspiegelte und die Science Fiction auf eine neue Ebene beförderte. Nicht die Story um den Hacker Case, der zwischen die Fronten einer undurchsichtigen Künstlichen Intelligenz und zwielichtiger Konzerne gerät, ist das Besondere, sondern die Ideen rund um den von Gibson geprägten Cyberspace und die Sprache, mit der er diese umsetzt, sind es, die diesen Roman zu einem zeitlosen Klassiker machen, auch wenn die Technik überholt ist und niemand mehr weiß, wie ein „toter Kanal“ auf einem Fernseher aussah.

Snow Crash – Neal Stephenson (1992)

Einer jener wenigen Romane, die sich (ähnlich wie Neuromancer oder Hyperion) schnell zu modernen Klassikern entwickelten und von der Presse teils etwas zu ernst genommen wurde, obwohl der Name des Helden – Hiro Protagonist – eine gewisse parodistisch/satirische Strömung bereits andeutete. In einer nahen Zukunft ist Hiro ein Samuraischwert schwingender Pizzalieferant für die Mafia, der seine Lieferung innerhalb von 30 Minuten an den Mann bringen sollte, wenn er nicht mit einbetonierten Füßen im Meer landen möchte. Mit dieser Ausgangsbasis greift Stephenson viele Motive des Cyberpunks auf und treibt sie in einer rasanten Geschichte mit vielen faszinierenden Ideen auf die Spitze.

Was ist Cyberpunk?

Im Vorwort zur oben abgebildeten Neuromancer-Ausgabe bezeichnet Gibsons Freund Jack Womack Billy Idols Album Cyberpunk als „dämmlichen Hommage-Versuch“, über den man besser den Mantel des Schweigens decke. Als ich mir das Album aufgrund des rechts abgebildeten Videos zu ShockTo The System als Dreizehnjähriger kaufte, hat es mich überhaupt erst zum Cyberpunk und William Gibson gebracht. Und einige Titel wie Neuromancer oder Wasteland höre ich mir heute noch gerne an. EIn Album, das seiner Zeit voraus war und durchaus Atmosphäre hat. Auch wenn der passendere und radikalere Soundtrack zum Cyberpunk eher von Bands wie Atari Tenage Riot kommt.

Cyberpunk entstand in den 1980er-Jahren als Untergenres der Science Fiction. Ästhetisch wird es bis heute stark durch Ridley Scotts Blade Runner geprägt, mit den verregneten Hochhausschluchten, in deren Pfützen sich das Neonlicht spiegelt, während eine Gestalt im Trenchcoat gehetzt durch sie hindurch stapft, über ihr die flirrenden Lichter der fliegenden Autos.

Cyberpunk spielt in einer nicht allzu entfernten Zukunft, die von riesigen Konzernen rücksichtslos mit technologischen Mitteln regiert wird, während die Mittelschicht verschwunden und das Sozialwesen zerbröckelt ist. Auf der Straße herrscht das Gesetz des Stärkeren. Ein Großteil des Lebens hat sich in den Cyberspace verschoben, denn während die Straßen zerfallen und von Kriminalität beherrscht werden, ist dies für viele ein Zufluchtsort.

Das Punk hinter dem Cyber steht für die subversive Natur dieses Untergenres, das die oben genannten Verhältnisse kritisiert. Ausgangspunkt für diese Kritik ist die Reagan-Ära, die Blütezeit des Kapitalismus an der Wall Street (»Gier ist gut«), aber auch der Aufstieg Japans als technologische Führungsnation (was im Rückblick durchaus für Kritik sorgt).

Neben William Gibson und Neal Stephenson gehören noch Bruce Sterling und John Shirley zu den Pionieren des Genres, die weiterentwickelten, was Autoren wie Philip K. Dick und John Brunner in den 60er- und 70er- Jahren begonnen hatten. Seitdem sind unzählige Filme, Serien, Animes, Mangas und Spiele in diesem Genre erschienen. Und es ist nicht totzukriegen, denn Retro ist in, die Flucht in die Popkultur der Kindheit und in diesem Fall die Zukunft der Vergangenheit. Deshalb sieht auch Cyberpunk 2077 im Jahr 2020 von der Ästhetik her aus, wie aus den 80ern.

Der Youtube-Kanal Just Write liefert in diesem zwölfminütigen Video einen schönen Einstieg in die Geschichte des Cyberpunks und vermittelt einen guten Eindruck von der Ästhetik des Genres. Besonders interessant ist der herausgearbeitet Widerspruch zwischen dem, wie man sich damals die Werbung der Zukunft vorgestellt hat (coole Neonkulisse), und dem Schrecken, den Werbung heute für uns im Internet darstellt. Just Write geht auch darauf ein, warum diese Zukunftsvision heute veraltet wirkt – erklärt am Beispiel der Serie Altered Carbon; und wieso Mr. Robot eine aktualisiertere, gelungenere Cyberpunkversion darstellt.

Die aktuellste Vision des Genres dürfte das Computerspiel Cyberpunk 2077 darstellen, das Ende 2020 mit hohen Erwartungen erschien, auf einigen Ebenen aber ziemlich enttäuschte (vor allem wegen des teils unfertigen Status). Ich habe es noch nicht gespielt, doch ästhetisch bedient es sämtliche Cyberpunkklischees, die sich in den letzten 40 Jahren etabliert haben, von vielen aber noch immer sehr geschätzt werden. Mit unserer Zukunft in Zeiten von Klimakrise, Pandemie, Massenartensterben usw. setzt sich das Spiel so nicht auseinander, aber immerhin ist Keanu Reeves dabei.

Blade Runner, der Roman von Philip K. Dick im Reread

Mit den Erinnerungen ist das so eine Sache, die verändern sich mit der Zeit und können immer weiter vom Original abweichen, so richtig trauen kann man ihnen nicht. Die Andys (oder Replikanten) aus Blade Runner müssen das am eigenen Leib erfahren, denn ihnen werden Erinnerungen eingepflanzt, die nicht die eigenen sind. Wird ein Buch verfilmt, das man gelesen hat, können die Bilder des Films mit der Zeit die Erinnerungen an die Lektüre ersetzen, ohne, dass man es merkt. So ging es mir schon öfters, weshalb ich nun im Zuge der filmischen Fortsetzung testen möchte, wie viel vom Buch ich tatsächlich vergessen oder fälschlicherweise vom Film übernommen habe.

Meinen vollständigen Reread von Blade Runner inklusive Vergleich mit der Verfilmung gibt es auf Tor Online …

Miami Punk

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