Mutter London | Michael Moorcock

In seinem Mammutwerk London – Die Biografie – die alle lesen sollten, die sich für die britische Hauptstadt interessieren – führt Peter Akroyd neben Arthur Machen auch Michael Moorcock als großen Chronisten Londons auf und zitiert gleich dreimal aus dessen Roman Mutter London.

Michael Moorcocks "Mutter London" in der gedruckten Ausgabe mit dem Cover nach vorne in meinem Buchregal stehend, rechts und links davon weitere Bücher von Michael Moorcock. Das Cover ist Rot gehalten, darauf in Schwarz die Kuppel von St. Pauls Cathedral, die unten aussieht wie eine altmodische Rakete.

Kaum ein Autor hat mich so geprägt wie Michael Morcock, allerdings nicht in Hinblick auf London, sondern auf Fantasy in Sekundärwelten. Nach meinem Einstieg ins Genre durch Raymond Feists Midkemia-Saga ging gleich der nächste Griff ins Regal meiner Buchhandlung zur legendären schwarzen Ausgabe von Elric, in der die sechs Hauptbände der Reihe enthalten sind. Kein anderes Buch habe ich so oft gelesen. Und auch die anderen Werke aus Moorcocks Saga um den Ewigen Helden habe ich verschlungen, ob Corum, Falkenmond oder Erokese. Und mit Jerry Cornelius ging es sogar ins Swinging London der Sixties. Trotzdem gab es bei mir doch einige Werke in Moorcocks Bibliografie, an die ich mich nie heranbegeben habe. Mother London war mir vom Namen her ein Begriff, aber da es bis kürzlich nie auf Deutsch erschienen war, habe ich mich nicht weiter damit beschäftigt. Erst Peter Ackroyd machte mich auf dieses Werk aufmerksam und neugierig.

Mutter London ist im Original 1988 erschienen und gilt als sein Opus Magnum, sein literarischstes Werk, und fand doch nie den Weg zu uns. Vielleicht lag es daran, dass Moorcock bei uns vor allem für seine Fantasygeschichten bekannt war, die sich, wie sein bekanntestes und erfolgreichstes Werk (Elric), vor allem im Bereich der Sword & Sorcery einordnen lassen. Also in der sogenannten Schundliteratur. Manche dieser Bücher hat Moorcock in Rekordzeit runtergeschrieben und ohne Überarbeitung veröffentlichen lassen, weil er Angst hatte, sonst die zahllosen neuen Ideen, die ihm schon gekommen waren, wieder zu vergessen. Und es war schnell verdientes Geld.

Doch dass Moorcock mehr als ein Pulp-Autor war, zeigte er nicht nur als Herausgeber der New Worlds und treibende Kraft hinter der britischen New Wave, sondern auch  immer wieder in Werken wie I.N.R.I: oder die Reise mit der Zeitmaschine, dem Pyett-Quartett um Byzanz ist überall, Das Bordell in der Rosenstraße und eben Mutter London. Gerade letzterer Roman ist ein so opulentes, vielschichtiges und umfassendes Porträt Londons vom 2. Weltkrieg bis in die 1980er, dass es mir unerklärlich ist, warum der Roman nicht in einem Verlagsprogramm neben Thomas Pynchons Die Enden der Parabel erschienen ist (auch wenn ich es mit dem jetzt nicht auf eine Stufe stellen würde).

Mutter London und seine Figuren

Leichte phantastische Elemente gibt es in beiden, bei Moorcock sind es die Fähigkeiten der drei Hauptfiguren, die Gedanken anderer Menschen hören zu können, die ihnen einen hohen Preis abverlangen, uns aber Einblicke in die (oft obszönen bis gewalttätigen) Gedankenwelten der Londoner Bevölkerung liefern.

Die drei Hauptfiguren sind Josef Kiss, Mary Gasalee und David Mummery. Sie begleiten wir über Jahrzehnte durch London, wo sich ihre Wege immer wieder kreuzen, nachdem sie sich erstmals in der Psychiatrie kennengelernt haben. Josef Kiss, der extravagante und exzentrische Lebemann, Schauspieler, Gedankenleser, Künstler, Palmenkletterer und vieles mehr. Mary Gasalee, die während des Blitz, ihre neugeborene Tochter schützend, unter den brennenden Trümmern des Hauses begraben wird und fünfzehn Jahre im Koma verbringt, dann aber kaum gealtert wieder aufwacht und versucht, zurück ins Leben zu finden. Und der Schriftsteller und Historiker David Mummery, der als Kind eine lebhafte Fantasie hat, einen Onkel in der britischen Regierung und eher schüchtern und zurückhaltend ist.

Unsere drei Hauptfiguren sind Getriebene, vom Leben gebeutelt, aber doch voller Lebenslust, die sich in den unzähligen Kneipen, um die sich nicht wenige Kapitel drehen, ein buntes soziales Netzwerk aus Freund*innen aufbauen, in deren Leben uns Moorcock auch immer wieder Einblicke gewährt. Und so präsentiert sich uns ein breites Figurenarsenal, dass alle gesellschaftlichen Schichten umspannt, von Kleinkriminellen, über etwas größere Kriminelle, bis zu Politiker*innen, und allen, die zwischen diesen beiden Polen aufgerieben werden.

Moorcock schenkt uns hier keine Abziehbilder und Stereotypen, sondern vielschichtige Menschen, voller Widersprüche, Schrullen und Macken. Ein Kaleidoskop aus Individuen, die durch die Beziehungen zueinander und der Geschichte der Stadt ihr schlagendes Herz und ihre Essenz bilden. London ist ein lebender Organismus, und all diese Figuren sind Teil davon. Und durch die lebhafte, opulente, mitreißende und sorgfältig gewählte Sprache lässt uns der Autor an diesem Leben teilhaben, als würden wir mit Josef Kiss um die Häuser ziehen, über sein Witzschen lachen, den Kopf schütteln ob seiner rebellischen Monologe und die Augen erstaunt aufreißen, wenn er einen seiner „telepathischen“ Tricks zeigt.

Mit viel Empathie führt uns Moorcock an diese Menschen heran, vergisst dabei aber nicht, sie mit Widersprüchen und Ambiguität zu füllen; mit Eigenschaften, die nicht immer sympathisch sind, sie aber so viel realistischer wirken lassen. Die Sympathie für die Herzlichkeit kommt oft durchs Hintertürchen und wirkt dadurch um so stärker.

Aber einfach der Geschichte dieser drei Menschen folgen, von Anfang bis Ende, das wäre doch langweilig, und langweilen möchte Moorcock nicht. Und so präsentiert er uns den Roman nicht in chronologische Reihenfolge, sondern wild durcheinandergewürfelt, mit Zeitsprüngen vor und zurück durch Kriege, Epochen und Kneipen, so dass wir uns die Geschichte selbst ergründen müssen. Wir müssen mitdenken, aufpassen und nehmen so viel stärker an den Schicksalen teil. Doch ganz so chaotisch geht es dann nicht zu Gange. Das Buch besteht aus sechs Teilen, die oft in sechs Kapitel unterteilt sind. Und mal geht es von Kapitel zu Kapitel in der Zeit zurück, und mal nach vorne.

Was kritisiert werden könnte?

Mein ehemaliger Übersetzerkollege Frank Böhmert wirft Morcoock ja vor, dass der sich ein wenig zu sehr für die Befindlichkeiten der Aristokratie interessiere, aber hier dienen die kleinen Ausflüge in die gehobenere britische Gesellschaft nur als Kontrast zum Alltag der gewöhnlichen Bevölkerung – und sie kommen nur sehr selten vor. Z. B. wenn es um Davids Onkel geht, der als graue Eminenz von Churchill bis Thatcher im Hintergrund agiert. Oder der Schwester von Josef Kiss, die eine opportunistische und ambitionierte Politikerin ist, ihm gelegentlich aber aus der Klemme hilft. Für ein breites Panorama der Stadt bedient sich Moorcock an (fast) allen Gesellschaftsschichten.

Nicht alle Kapitel sind gleich unterhaltsam und stark, aber das dürfte vor allem Geschmackssache sein. Wir haben sicher alle andere Lieblinge unter den Figuren, mit denen wir mehr Zeit verbringen wollen, während uns andere auf die Nerven gehen. Das stärkste Kapitel war für mich übrigens jenes, das zeigt, wie die Polizei gegen People of Colour vorgeht und versucht, Unruhen zu provozieren, weil die der Politik ganz genehm wären und sie selbst ihren Rassimus offen ausleben können. Den historischen Hintergrund dafür dürfte das Battle of Lewisham bilden, als Nazis aufmarschierten, die Polizei aber vor allem rabiat gegen Schwarze Gegendemonstranten und Unbeteiligte vorging. Hier zeigt sich, was für ein feiner Beobachter Moorcock im Leben jenseits der Fantasy ist, und dass seine Wurzeln in der Gegenkultur liegen.

Wie schon zuletzt die Elric-Neuausgabe, wurde auch Mutter London von Hannes Riffel ganz hervorragend übersetzt, der hier sicher etwas mehr zu kniffeln hatte, da das Buch auf einem ganz anderen sprachlichen Niveau geschrieben ist. Und bei Hannes im Carcosa Verlag ist Mutter London auch erschienen, in einer Ausgabe, die das schicke Coverkonzept von benswerk beibehält. Ist das die Kuppel von St. Pauls Cathedral, die wir auf dem Cover sehen, die unten aussieht, wie eine Rakete?

Mit Mutter London hat Michael Moorcock eine beeindruckende Liebeserklärung an seine Geburtsstadt geschrieben, die sich nicht scheut, auch die Schattenseiten der britischen Hauptstadt zu zeigen, eingewoben in eine traumwandlerische Handlung, die aber nie ins Surreale abgleitet. In kaum einer Stadt dürften mehr Romane spielen als in London. Höchstens noch New York. Und doch gibt es nur wenige Romane, die uns einen so plastischen, epischen und gleichzeitig detaillierten Einblick in das Leben der Stadt vermitteln. Hier werden historische Ereignisse aus dem Krieg, aber auch Musikfestivals, Unruhen und uvm. mit fiktiven Figuren und leicht übernatürlichen Elementen verknüpft, die aber alle auch nur Einbildung sein könnten.

P. S. habe ich hier jetzt wirklich die erste Besprechung der deutschsprachigen Ausgabe verfasst und veröffentlicht? Die Ignoranz des deutschsprachigen Literaturbetriebs für diesen großartigen Roman vom vermeintlichen Schundautor scheint weiter anzuhalten. Mutter London sollte eigentlich eine ähnliche Sensation sein wie die deutschen Ausgaben von Alan Moores Jerusalem und Ursula K. Le Guins Immer nach Hause. Ich bin für so eine Besprechung doch gar nicht qualifiziert, das sollte Aufgabe des Feuilletons sein.

P.P.S. im Jahr 2000 erschien mit King of the City ein Nachfolgeband zu Mutter London, der lose daran anknüpft. Ob Carcosa den Band auch bringen wird, weiß ich aber nicht.

P.P.P.S Nachtrag: Hat nur wenige Stunden gedaurt, aber Frank Duwald hat jetzt auch seine Besprechung veröffentlicht. Ich glaube, wir haben mit dem Lesen ungefähr zur gleichen Zeit angefangen.

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