Ihr Körper, das Schiff | Yvonne Tunnat u. Chris Witt (Hrsg.)
Pogopuschel | Veröffentlicht am |
Endlich mal wieder eine Anthologie mit englischsprachigen Science-Fiction-Kurzgeschichten in Übersetzung. Die muss ich natürlich besprechen. Was euch erwartet, könnt ihr unten lesen.
Im März 2015 habe ich auf meinem anderen Blog Ein Plädoyer für die übersetzte phantastische Kurzgeschichte veröffentlicht, da seit der Einstellung des Heyne Science Fiction Jahresband im Jahr 2000 kaum noch internationale phantastische Kurzgeschichten in Deutschland erscheinen und wir komplett den Anschluss an das, was Aufregendes dort passiert, verloren haben.
Jetzt, zehn Jahre später erscheint endlich ein Projekt, das dem nahekommt, was ich mir in meinem damaligen Beitrag vorgestellt habe. Und es erscheint nicht bei einem der großen Publikumsverlage, wie ich gehofft hatte (die scheint ihr Prestige nicht viel zu kümmern), sondern bei A7L Books, dem Kleinverlag für (übersetzte) Science Fiction von Brandon Q. Morris und Joshua Tree, herausgegeben von Yvonne Tunnat und Chris Witt.
Yvonne kenne ich inzwischen ganz gut aus dem Science-Fiction-Fandom und weiß, wie belesen sie in Sachen Kurzgeschichten ist und wie gut sie sich auskennt. Ich könnte mir niemand besseres vorstellen, um eine Anthologie mit den besten SF-Kurzgeschichten der letzten Zeit herauszubringen. Wobei »besten« natürlich relativ ist. Und – so viel kann ich vorab schon mal sagen – ich wurde nicht enttäuscht. Ihr Körper, das Schiff enthält keine einzige Kurzgeschichte, die mich enttäuscht hat. Klar gibt es welche, die ich besser fand als andere, und auch manche etwas schwach, aber insgesamt bietet sie ein tolles Leseerlebnis mit abwechslungsreichen, stets gut geschriebenen und faszinierenden Storys.
Und auf die gehe ich jetzt mal etwas genauer ein, ohne den inhaltlichen Verlauf zu spoilern, aber doch beschreibend, worum es in den Geschichten geht, damit ihr euch einen Eindruck von der Anthologie verschaffen könnt.
Angela Liu | Pinnochio Photography
Erzählt von Trauer und Verlust, und wie wir zukünftige Technologien nutzen könnten, um damit umzugehen. Wie wir das moralisch und ethisch bewerten, überlässt uns Liu selbst. Die Geschichte wertet nicht, sondern erzählt einfühlsam von einer Familie, die durch den Beruf der Tochter näher an dieser Technologie dran ist. Ein vielversprechender Auftakt.
Kelsea Yu | In Erinnerungen ertrinken wir
Auch bei Kelsea Yu geht es um Trauer und Verlust, aber auf ganz andere Weise erzählt. Wir befinden uns auf einer Station am Grunde des Ozeans, die den Kontakt zur Außenwelt bzw. der Oberfläche nach anscheinend apokalyptischen Ereignissen verloren hat. Für die Crew geht es ums Überleben, die Protagonistin findet eine Pflanze auf dem Meeresboden, die ganz bestimmte Erinnerungen durch Geschmack hervorruft. Sehr einfühlsam und originell geschrieben, mit dem Fokus auf einer Beziehung.
Auston Habershaw | Brutparisitismus
Erzählt von Invasion und Genozid auf einer fremden Welt als Familienunternehmen und mit einer klassischen Rachegeschichte, die von einer ungewöhnlichen Person ausgeführt wird. Ich bin nicht so ein Fan davon, wenn Aliens irdischen Tieren ähneln, und die (Auftrags-) Rachegeschichte ist auch nicht wirklich originell, aber zumindest ganz nett erzählt.
Rebecca Schneider | Ich werde dein Spiegel sein
Zu der Geschichte habe ich keinen wirklichen Zugang gefunden. Im Prinzip erzählt sie die Next-Generation-Folge Wem gehört Data? noch mal neu, alles aber etwas progressiver und familiärer. Doch hier werden so viele Namen genannt, zu denen ich einfach keine Verbindung aufbauen konnte, die einfach Namen blieben, ohne wirkliche Persönlichkeit. Ist keine schlechte Geschichte, hat für mich aber nicht funktioniert. Das Setting mit der Kolonie und dem Virus schien mir zu übertrieben für die eigentliche Story.
J. A. W. McCarthy | Sieh es als Chance
Ganz nette Idee, was künstliche Freund*innen angeht, bzw. in diesem Fall Geschwister, die geklont daherkommen und Erinnerungen an eine Kindheit implantiert haben, die es nie gab. Allerdings halten diese Geschwister nur ein paar Wochen. Hier wird so ein Ding von narzisstischen Eltern genutzt, um der Tochter nachträglich eine schöne Kindheit vorzugaukeln, mit einem schön bösen Ende.
Katherine Ewell | Die Leiden des neuen Zeitalters
Kathrine Ewell erzählt von einer Zukunft, in der das Altern scheinbar besiegt ist, in der für geheilte Krankheiten aber neue geschaffen werden. Die Protagonistin ist zwar über 200 Jahre alt, mit ihrem Gedächtnis allerdings aus der Zeit gefallen. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen zu einem wabernden Nebel. Schön persönlich erzählt.
Natasha King | Plötzliches Verhängnis
Von der Geschichte ist mir zwei Tage später schon gar nicht mehr so viel in Erinnerung geblieben. Es geht um eine Art KI, die in einen menschlichen Körper gelangt ist und in einer postapokalyptischen Welt von jemandem gejagt wird. Wobei hier die Frage ist, wer hier wen jagt. Hat einen netten, wenn auch vorhersehbaren Twist am Ende.
Mahmud El Sayed | Erinnerungen an verlorene Erinnerungen
Hier bekommen wir es mit einer Alien-Invasion der etwas anderen Art zu tun, die nur den Rahmen für eine Geschichte bildet, in der es um den Wert von Erinnerungen geht. Ist ganz nett erzählt, plätschert aber auch etwas vor sich hin.
Z. K. Abraham | Ihr Körper, das Schiff
Sprachlich schön geschriebene Geschichte über eine Ingenieurin an Bord des Generationsraumschiffs ihres Volkes, das kurz vor der Ankunft auf dem Zielplaneten steht. Was ihr aufgrund ihrer eher ungesunden Beziehung zum Schiff gar nicht passt. Einfache Prämisse, durch die Ausarbeitung des Settings und der Kultur aber interessant.
Michael Teasdale | Frank Peterson kommt nach Hause
Sehr kurze, prägnant geschriebene und clever konstruierte Story darüber, was passieren kann, wenn unser Bewusstsein in der Cloud gespeichert und nach unserer Ermordung in einen neuen Körper transferiert werden kann. Bin mir nicht ganz sicher, was ich von dem bösen Twist in der Geschichte halten soll. Vielleicht ein zu plakativer Einsatz eines Themas, das mehr Raum benötigt.
Frank Ward | In den Tagen danach
Die Geschichte behandelt die Nachteile von Unsterblichkeit, vor allem, wenn sie nur einen Teil der Menschheit betrifft, und zwar unter ganz bestimmten Umständen. Ist schon etwas sehr konstruiert, aber doch ganz interessant geschrieben.
Everdeen Mason | Scarlett
Eigentlich hängen mir Geschichten über KI zum Hals raus, aber diese Story hier geht auf faszinierende Weise der Frage nach, ob KI, vor allem, wenn wir ihr einen Körper verpassen, nicht doch so einige Aspekte ihrer meist männlichen Schöpfer widerspiegeln. Dabei arbeitet sie auf einen schönen Twist am Ende hin. Nice.
Kel Coleman | in der Angelegenheit Home sapiens
Ist mehr Snippet denn Kurzgeschichte. Einige letzte Roboter räumen die Erde auf und philosophieren über die ausgestorbene Menschheit und warum sie noch Optimismus für sie besitzen. Ganz spaßig geschrieben.
Jana Bianchi | Dein kleines Licht
Wir hatten schon melancholische Geschichten, welche mit dichter Atmosphäre, stimmungsvolle, nachdenkliche, auf eine fiese Pointe hinarbeitende, aber wirkliche Spannung gab es noch nicht. Doch die bietet das Survival-Szenario von Jana Bianchi, über eine junge Frau, die hochschwanger die einzige Überlebende eines Unfalls auf einem Generationenraumschiff ist und nun mit einer außerirdischen Kreatur, über die sie nichts weiß, in einem Labor festsetzt … als die Wehen einsetzen. Sehr gut geschrieben.
Naomi Kritzer | Das Jahr ohne Sonnenschein
Plötzlich ist die Sonne Weg und Gesellschaft und Infrastruktur geraten ins Wanken. Doch das erzählt und Kritzer nicht im großen Rahmen, sondern auf eine kleine Gemeinschaft beschränkt, die solidarisch zusammenarbeitet, um über die Runden zu kommen und zu überleben. Eine sehr optimistische bis utopische Geschichte über den Wert von Solidarität in einer Gesellschaft, in der Egoismus und Narzismus leider allgegenwärtig sind. Mehr Social Fiction als Science Fiction, aber für mich das Highlight der Anthologie.
Fazit
Auch wenn manche der Geschichten bei mir nicht voll gezündet haben, ist das hier eine tolle und stimmige Sammlung von einer diversen Autorenschaft, die alle eine Bereicherung der Science Fiction darstellen und auf hohem Niveau schreiben. Hinzu kommt die ausgezeichnete Übersetzung von Sharyn Wegmann (wäre allerdings schön, wenn sie am Anfang des Buches neben den Herausgeber*innen und Autor*innen erwähnt worden wäre, und nicht nur hinten im Impressum). Das Cover stammt von Jelena Gajic.
Wenn ihr euch auf den neuesten Stand bringen lassen möchtet, was international so in Sachen Science-Fiction-Kurzgeschichten geht, kann ich euch diese Anthologie nur wärmsten Empfehlen. Ich habe hier eine Menge neuer interessanter Autor*innen kennengelernt, denn bis auf Naomi Kritzer kannte ich niemanden. Was auch zeigt, dass ich den Anschluss verloren habe und umso dankbarer für diese Anthologie bin.


Schreibe einen Kommentar